Die Grünen haben bei der Europawahl Geschichte geschrieben und in Deutschland ihr historisch bestes Ergebnis erzielt. Als viertstärkste Kraft werden sie die Europapolitik mitprägen. Wir sprachen mit Sven Giegold MdEP, Sprecher der Europagruppe Grüne und Ko-Spitzenkandidat von Bündnis90/Die Grünen zur Europawahl 2019 über die Wahl von Ursula von der Leyen, das Spitzenkandidatenmodell, die neue Rolle der Grünen Fraktion und die bevorstehenden Herausforderungen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Green European Journal: Bei der Europawahl haben die deutschen Grünen mit 20,5% ein Rekordergebnis erzielt. Worauf führst Du diesen Erfolg zurück?

Sven Giegold: Es gab drei zentrale Entwicklungen, die uns Rückenwind gegeben haben. Erstens war diese Wahl eine Klimawahl. Klima- und Umweltschutz war das wichtigste Thema im Wahlkampf. Die Gesellschaft und auch die Wirtschaft fordern mittlerweile eine viel aktivere Klimapolitik als die CDU/CSU und SPD in der Regierung liefern. Die Große Koalition ist bei diesem zentralen Politikfeld zum Gegenspieler der Gesellschaft geworden. Dazu kommt, dass es sich um eine echte Europawahl gehandelt hat. Die Bürgerinnen und Bürger, das zeigen Nachwahlbefragungen, haben sehr viel genauer auf die Europapolitik geachtet. Auch dort hat die Große Koalition ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Diese Bundesregierung hatte Europa zum Zentralthema ihrer neuen Amtszeit erhoben und im Koalitionsvertrag verankert. Aber auf die vielen europapolitischen Vorschläge von Emmanuel Macron, die viele Deutsche unterstützen, hat es bis heute von dieser Regierung nicht einmal eine anständige Antwort gegeben. Und drittens drohte die AfD mit ihren europäischen Partnern einen europapolitischen Wahlerfolg zu erzielen. Wir Grüne waren die einzige und konsequenteste pro-europäische Alternative zur AfD. Auch die Linkspartei schied dort aus, weil sie bis heute nicht glaubhaft darstellen kann, dass sie Europa wirklich mitgestalten will. Und schließlich darf nicht verschwiegen werden: Wir haben zwei überragende Bundesvorsitzende, die die ganze Partei mitziehen.

Die Grüne Fraktion ist nun die viertstärkste Kraft im Europaparlament. Wie wird sich eure Rolle im Vergleich zur letzten Legislaturperiode ändern müssen?

Die wird sich sehr stark verändern. In der vorherigen Legislaturperiode konnte man pro-europäische Mehrheiten ohne uns zustande bringen. Das ist diesmal nicht so einfach. Die Christdemokraten könnten natürlich auch mit den anti-europäischen Kräften eine Mehrheit bilden, aber ansonsten brauchen die Christ- und Sozialdemokraten immer die Liberalen und/oder Grüne. Die Mehrheit der Christ- und Sozialdemokraten und Liberalen ist wacklig. Das haben die ersten Abstimmungen gezeigt. Zusammen kommen diese Fraktionen auf 444 Stimmen. Aber bei der Wahl des Präsidenten des Europaparlaments gab es nicht mal eine absolute Mehrheit von 376 stimmen. Da fehlten knapp 100 Stimmen aus den eigenen Reihen. Das zeigt: Ohne die Grünen ist es schwieriger pro-europäische Mehrheiten zu organisieren, auch weil in den anderen drei Fraktionen eine Menge Abgeordnete sitzen, die es mit Europa und der Rechtsstaatlichkeit in Europa nicht so ernst meinen. Deshalb sind wir sehr umworben.

Wir können nicht mehr zwischen Mitgestaltung und Fundamentalopposition schwanken.

Das bedeutet aber auch, wir können nicht mehr zwischen Mitgestaltung und Fundamentalopposition schwanken. Wir werden jetzt deutlich konsequenter auf Mitgestaltung setzen müssen und das ist eine große Chance. Diese Rolle hatten wir schon lange bei einigen Themen. Das wird sich nun verbreitern und gibt uns die Möglichkeit unser Programm auch umzusetzen.

In der Wahl zur Europäischen Kommissionspräsidentin habt ihr gegen Ursula von der Leyen gestimmt. Welche Gründe gab es dafür?

Wir haben aus drei Gründen gegen sie gestimmt. Erstens, weil sie im Rahmen ihres Arbeitsprogramms grüne Kernforderungen nicht substantiell aufnehmen wollte. Zweitens, weil sie vom Rat als Teil einer Strategie zur Schwächung des Europäischen Parlaments nominiert worden war. Und letztlich, weil sie keine überzeugenden Anstrengungen unternahm, uns Grüne bei der institutionellen Verantwortung in der EU einzubinden. Ihre pro-europäische Rede im Europäischen Parlament war nach ihrem schwachen Auftritt in unserer Fraktionssitzung eine positive Überraschung. Aber eine gute Rede ist kein Ersatz für eine ordentliche Vereinbarung.

Wir Grüne wurden für eine Agenda des Wandels gewählt und über unsere Zustimmung entscheiden wir auf der Grundlage von Inhalten. Keine politische Entscheidung kann auf einer guten Rede allein beruhen. Weder in unserer fast zweistündigen Fraktionssitzung und einem Gespräch hinter verschlossenen Türen noch in ihrer Rede im Parlament haben wir hinreichende Antworten auf unsere Kernforderungen gehört. Weder zur Abwendung der Klimakrise oder einer neuen EU-Agrarpolitik, noch zu den Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn, einem Europäischen Seenotrettungsprogramm oder europäischen Mindeststeuersätzen für Großunternehmen in Europa. Und manche Versprechungen waren sehr widersprüchlich, wie beim Mindestlohn oder bei der CO2 Grenzsteuer. Sie kannte unsere konkreten Anforderungen sehr genau. Wo gute Ansätze zu erkennen waren, blieb Ursula von der Leyen im Unklaren. Das war nicht die Politik der Veränderung, die nötig ist. Bei anderen Fraktionen hat sie bei Inhalten und Personal geliefert, bei uns wollte sie offensichtlich Stimmen für Überschriften. Doch genau damit hätten wir die hohen Erwartungen unseren vielen Wähler*innen enttäuscht.

Was bedeutet das für die zukünftige Zusammenarbeit mit Ursula von der Leyen?

Jetzt ist die Lage, wie sie ist, und wir schauen nach vorne. Wir sind jederzeit bereit mit ihr zusammen zu arbeiten, wann immer sie Vorschläge macht, die für mehr Klimaschutz, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und ein sozialeres Europa sorgen. Wir bedauern allerdings, dass die Christdemokraten fast alle Kompromisse für politische Schritte in eine progressive Richtung, die im Parlament schon ausgehandelt worden waren, noch vor der Wahl von der Leyens wieder einkassiert hatten.

Ist das Spitzenkandidatenmodell jetzt gestorben?

Nein. Das Spitzenkandidatenmodell ist nicht tot. Aber ich bin überrascht wie schnell viele Abgeordnete anscheinend dazu bereit sind, die Stärken des Europaparlaments zur Disposition zu stellen. Das Spitzenkandidatenmodell hat zu einer europaweiten Debatte und Legitimation geführt, die viel stärker ist als die einfache Berufung des Kommissionspräsidenten durch die Staats- und Regierungschefs mit anschließender Wahl durch das Parlament. Es war damit auch ein Gegenkonzept zur immer wieder vorgetragenen wenn auch fragwürdigen Schmähung der Europäischen Kommission als nicht-legitimierte Bürokratie sei.

Wo gute Ansätze zu erkennen waren, blieb Ursula von der Leyen im Unklaren. Das war nicht die Politik der Veränderung, die nötig ist.

Das Modell dürfen wir nicht aufgeben. Die großen Parteifamilien haben es aber selber untergraben, indem die Christdemokraten gesagt haben wir wollen nur Manfred Weber und sonst keinen, während die Sozialdemokraten und Liberalen gesagt haben, wir können uns jeden vorstellen, nur nicht Manfred Weber. Auf diese Weise hat das Parlament sich selbst geschwächt. Der Rat hat die Gelegenheit ergriffen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es war ein großer Fehler die Kandidatin des Rates zur Kommissionschefin zu wählen, bevor der Rat verbindliche Zusagen zur Rettung des Spitzenkandidatenmodells samt transnationaler Listen gemacht hat. Vor der Bestätigung der gesamten EU-Kommission im Oktober muss das unbedingt nachgeholt werden. Die neue EU-Kommission darf nur ins Amt kommen, wenn der Rat bei der Stärkung der europäischen Demokratie liefert.

Die deutschen Grünen sind nun eine der stärksten nationalen Parteidelegationen im Europaparlament. Was bedeutet das für die Grüne Fraktion?

Wir sind uns dieser Situation bewusst und haben uns entschieden nicht mit einer nationalen Einheitsmeinung in die Fraktionssitzungen zu gehen, sondern die Differenzen, die natürlich auch in unserer Delegation bestehen, offen auszutragen. Andere kleinere nationale Delegationen machen das nicht unbedingt so.

Die eigentliche Bedeutung liegt aber anderswo. Sollten wir Grüne irgendwann in die Bundesregierung kommen, dann bietet das enorme Chancen im Europäischen Rat das Auftreten Deutschlands zu verändern. Deutschland muss bereit sein, mehr in Europa zu investieren statt regelmäßig zu blockieren. Das bringt aber auch Risiken, weil wir uns im Europaparlament überlegen müssen inwieweit wir Positionen einnehmen, die im Widerspruch stehen zu dem was wir in Berlin tun können.

Unsere Rolle hat sich mit dem guten Wahlergebnis aber auch grundsätzlich geändert. Früher waren wir elf Abgeordnete, die jeweils ihre thematischen Schwerpunkte hatten und dafür auch gewählt wurden. Wenn man aber die zweitgrößte deutsche Delegation ist, reicht das nicht aus. Die Wählerinnen und Wähler erwarten ein Vollprogramm. Das müssen wir liefern. Aus großer Kraft folgt große Verantwortung. Wir müssen uns nun um viele Themen kümmern, auch bei denen, wo wir uns bisher zurückgehalten haben, zum Beispiel bei der inneren Sicherheit. Wir können nicht mehr sagen, dies sind grüne Themen und jene sind keine grünen Themen. Jetzt sind alles grüne Themen. Entsprechend werden wir auch in allen Ausschüssen des Parlaments auf Augenhöhe vertreten sein.

Du bist treibende Grüne Kraft im Wirtschafts- und Finanzausschuss des Parlaments und Verhandlungsführer der Grünen in der Arbeitsgruppe Wirtschaft, Soziales, Währung und Finanzen gewesen. Was sind die großen wirtschafts- und finanzpolitischen Baustellen in Europa, die diese Legislaturperiode bearbeitet werden müssen?

Es geht jetzt darum große Investitionen in die Ökologisierung der Wirtschaft zu lenken. Das, was wir Grüne als Green New Deal bezeichnen, ist was jetzt passieren muss. Die Weltwirtschaft wackelt. Die Zinsen sind notorisch niedrig. Wann, wenn nicht jetzt, kann man Europas Wirtschaft ökologisch umbauen, digitalisieren und auf den demographischen Wandel vorbereiten? Dafür muss Europa den notwendigen Rahmen setzen mit einer ökologischen Bepreisung, Regulierungen und ambitionierten Investitionsanstrengungen.

Wir können nicht mehr sagen, das sind grüne Themen und das sind keine grünen Themen. Jetzt sind alles grüne Themen.

Auch die Arbeit im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion muss fortgesetzt werden. Da bleiben viele Konflikte offen. Die EU braucht weiterhin ein gemeinsames System der Einlagensicherung und eine Reform der Eurogruppe, die transparenter und demokratisch verantwortlicher werden muss. An der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion wird seit sieben Jahren gearbeitet, passiert ist aber sehr wenig. Ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik in der Eurozone gibt es jedoch keine Änderung der Geldpolitik. Die Risiken der superniedrigen Zinsen wachsen jedoch ständig.

In den USA kämpfen die Demokraten jetzt für einen Green New Deal. Was ist mit den Green New Deal in Europa geschehen?

Nichts. Es hat ihn nicht gegeben. Nach der Finanzkrise in 2009, als wir das Konzept entwickelt haben, gab es ein Momentum, die Wirtschaft mit zusätzlichen Investitionen und einer aktiven Geldpolitik zu mobilisieren und gleichzeitig eine ökologische Dividende zu erzielen. Das ist aber von den großen Fraktionen komplett abgelehnt worden. Mittlerweile beobachte ich aber, dass die europäische Sozialdemokratie ihre Position verändert. Es gibt nun viel mehr Offenheit gegenüber einer ökologischen Steuerung. Ebenso helfen die Proteste von Fridays for Future. Dagegen sehen wir nach wie vor große Widerstände bei den Christdemokraten. Ihre Forderungen bleiben stark hinter den Pariser Klimaschutzzielen zurück.

Die Green New Deal Debatte in den USA hilft uns natürlich, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Allerdings ist es schon etwas bizarr, dass die Demokraten nicht erklären, wie sie den Green New Deal eigentlich finanzieren wollen. Das ist leider keine vernachlässigbare Nebenfrage. Zu jedem Konzept gehört eine seriöse Finanzierung.

Und die wäre? Woher soll das Geld herkommen?

Es gibt in Europa nach wie vor Umsatzsteuerbetrug, eine hohe Steuervermeidung transnationaler Unternehmen und ein unerträgliches Maß an Finanzkriminalität. Das wird alles durch die mangelnde Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und fehlende Steuerharmonisierung begünstigt. Wenn wir steuerpolitisch europaweit zusammenarbeiten, könnten wir große steuerbasierte Investitionsanstrengungen stemmen.

Zweitens kann man bei der aktiven Geldpolitik der Zentralbanken eine ökologische Komponente einbauen. Ich beobachte mit großem Interesse, dass die Zentralbanken weltweit sich aktiv in die Debatte der Begrünung der Wirtschaft einbringen. Die Europäische Zentralbank könnte da viel mehr tun, zum Beispiel indem sie in ihr Wertpapierkaufprogramm sozial-ökologische Kriterien verankert. Anstatt also irgendwelche Anleihen zu kaufen, sollten sozial-ökologische Anleihen bevorzugt und andere ausgeschlossen werden. Auch bei den Refinanzierungsgeschäften könnte man grundsätzlich sozial-ökologische Mindeststandards setzen. Damit würden sich die Refinanzierungskonditionen von allen fossilen Projekten beispielsweise verschlechtern. Die Zentralbank könnte sich so vor künftigen Wertverlusten ihrer Vermögenswerte und Sicherheiten schützen.

Von den USA bis nach Indien erleben wir eine schleichende Politisierung der Zentralbanken. Christine Lagarde hat einen überwiegenden politischen Hintergrund und wird nun als Kandidatin der EZB vom Europäischen Rat vorgeschlagen. Kommt mit ihrer Kandidatur die Politisierung auch in der EZB an?

Man muss gar nicht bis nach Indien gehen, um Zeuge der Politisierung der Zentralbanken zu sein. Da reicht Frankfurt. Die angeblich so unabhängige Bundesbank wird inzwischen von ehemaligen Beratern der Kanzlerin geführt. Die letzte Berufung in den Vorstand war Burkhard Balz, den ich persönlich schätze. Er war ehemaliger CDU/CSU Koordinator im Wirtschafts- und Währungsausschuss im Europaparlament und jetzt angeblich unabhängiger Bundesbänker. Der Chef der Bundesbank arbeitete vorher im Kanzleramt. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen.

Ich sehe die Tendenz der Politisierung der Zentralbanken sehr kritisch. Aber es ist fraglich, ob man diese Debatte nun wegen der Kandidatur von Christine Lagarde führen sollte. Solange es keine enge fiskalpolitische Zusammenarbeit in Europa gibt, brauchen wir eine aktive Geldpolitik. Da führen wir in Deutschland eine bigotte Debatte. Auf der einen Seite wehrt sich die Bundesrepublik gegen ein Eurozonen-Budget, eine gemeinsame Einlagensicherung und gemeinsame Investitionsanstrengungen und auf der anderen Seite beschwert sie sich wenn die Zentralbank den Euro rettet. Das ist völlig widersprüchlich. Entweder man treibt die fiskalpolitische Integration voran oder man muss hinnehmen, dass die Zentralbanken ihren Beitrag leisten.

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