Die Anti-Gender-Bewegung wird befeuert vom Neoliberalismus. Progressive Kräfte müssen es daher mit beiden aufnehmen.

Der Anteil der neu gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEP), der gegen die reproduktiven Rechte der Frau, die Geschlechtergleichheit, die gleichgeschlechtliche Ehe und die Konvention zur Gewalt gegen Frauen des Europarats (Istanbul-Konvention) eingestellt ist, beträgt etwa 30 Prozent. In der vorherigen Amtszeit des Parlaments waren es, laut meiner Schätzung in einer Studie für das finnische MEP Heidi Hautala, nur 15 Prozent. Also hat sich die Anzahl der MEP, die diese Themen bekämpfen, verdoppelt.

So unterschiedliche Themen wie die reproduktiven Rechte der Frauen, die LGBTI-Rechte, sexueller Aufklärungsunterricht und die Vorbeugung gegen sexuelle Gewalt werden von ihren Gegnern als Teile einer größeren Agenda namens „Gender-Ideologie“ betrachtet. Diesen unklaren Begriff zu verwenden, hat den Gegnern der Rechte von Frauen und anderer Minderheiten die Möglichkeit gegeben, mehrere Bereiche in einen Topf zu werfen. Sie präsentieren diese als Gesamtpaket, das den „traditionellen Familien“ angeblich von einer allmächtigen feministischen und LGBTI-Lobby aufgezwungen wird.

Viele Progressive sind über den Aufstieg dieses Phänomens bestürzt. Sie erklären es sich oft als eine Gegenreaktion oder einen Rückfall. So legen sie nahe, es handle sich dabei lediglich um die Opposition der Konservativen gegen einen unaufhaltsamen Marsch hin zu mehr Geschlechtergleichheit und besseren LGBTI-Rechten. Allerdings ist die Erklärungskraft dieses Arguments begrenzt. Es ignoriert die Komplexität der rechten Narrative und macht für ihren Aufstieg allein die Wählerinnen und Wähler verantwortlich.

Um zu verstehen, was diesen Trend antreibt, müssen sich die Progressiven eine wesentlich selbstreflektivere Frage stellen: Was ist falsch an einem politischen, sozialen und wirtschaftlichen System, in dem die Gegner von Frauen- und Minderheitenrechten die Möglichkeit haben, nicht nur die Unterstützer rechtsextremer Parteien anzusprechen, sondern auch Wählerinnen und Wähler, die traditionell der politischen Mitte angehören?

Die progressive Szene hat keine klare und einheitliche Agenda. Sie ist eine heterogene Mischung aus Bewegungen, Aktivistinnen und öffentlichen Akteuren mit sehr speziellen und oft unterschiedlichen Meinungen und Forderungen.

Tatsächlich liegt die zunehmende Opposition gegen die „Gender-Ideologie“ im Europäischen Parlament größtenteils an den starken Wahlergebnissen von Matteo Salvinis Lega, Nigel Farages Brexit-Partei, Jarosław Kaczynskis Partei für Recht und Gerechtigkeit, Viktor Orbáns Fidesz und Marine Le Pens Nationaler Sammlungsbewegung – Gruppen, die bezüglich ihrer Herkunft und Programme nur wenig gemeinsam haben, außer eben dem Widerstand gegen diese Themen. Die meisten dieser Parteien gehören der neuen rechtsextremen Identitäts- und Demokratiebewegung oder den euroskeptischen Europäischen Konservativen und Reformisten an. Fidesz und die bulgarische GERB, die sich ebenfalls gegen die „Gender-Ideologie“ wenden, sind allerdings in der gemäßigt rechten EPP angesiedelt, während die slowakische SMER und die rumänische PSD diesen Trend innerhalb der S&D-Gruppe repräsentieren. 

Obwohl sie sich der Spaltungen innerhalb der progressiven Bewegung bewusst sind, stellen konservative Akteure die dortige Debatte um die Frauen- und LGBTI-Rechte so dar, als sei sie homogen und werde innerhalb der politischen Mitte von allen gleichermaßen unterstützt. So können sie zwischen sich – als Fürsprechern der „traditionellen Familien“ – und den Progressiven – als „Gender-Ideologen“ – eine falsche Dichotomie herstellen und davon politisch profitieren. 

Damit interpretieren sie die progressive Szene allerdings völlig falsch: Sie hat keine klare und einheitliche Agenda, sondern ist eine heterogene Mischung aus Bewegungen, Aktivistinnen und öffentlichen Akteuren mit sehr speziellen und oft unterschiedlichen Meinungen und Forderungen. Zwar stimmen viele dieser Bewegungen in ihren Zielen tatsächlich überein, aber zwischen Teilen der feministischen Bewegung und der LGBTI-Szene bestehen weiterhin erhebliche Unstimmigkeiten. Verdeutlicht wird dies durch die anhaltende Debatte darüber, wie man den Begriff des Geschlechts als soziales Konstrukt definiert, das Männern und Frauen Rollen zuweist. Ähnlich ist es bei den Diskussionen über das Gefühl von Identität oder das Thema der Leihmutterschaft.

Auch innerhalb des Feminismus selbst treffen viele unterschiedliche Denkrichtungen aufeinander. Liberale Feministinnen vertreten in der Debatte über Sexarbeit und Prostitution andere Ansichten als radikale Feministinnen. Marxistische und (neo)liberale Feministinnen sind sich beim Thema der Ursprünge und Lösungen der Unterdrückung von Frauen darüber uneins, ob sie systemischer oder sozioökonomischer beziehungsweise individueller oder kultureller Natur sind.

Die von der EU vorgeschlagenen Maßnahmen zur Geschlechtergleichheit zielen darauf, die wirtschaftlichen Ergebnisse und die Leistung des Arbeitsmarkts in Europa zu optimieren.

Leider reagiert die progressive Bewegung auf die oben erwähnte Opposition, indem sie versucht, interne Debatten zum Schweigen zu bringen oder sie als gelöst darzustellen – auf Kosten ihrer Qualität. Oft wird argumentiert, die progressive Bewegung dürfe angesichts des Aufstiegs der Rechten nicht intern zerstritten wirken, um nicht zum „nützlichen Idioten“ ihrer Gegner zu werden. Wollen die Bewegungen angesichts dieser Angriffe aber unbedingt den Eindruck einer gemeinsamen Front aufrecht erhalten, führt dies zu Selbstzensur und Tabuthemen. Um die Argumente der Gegenseite besser verstehen und auf angemessene und gesellschaftsübergreifende Art über mögliche Lösungen diskutieren zu können, ist diese Einstellung kontraproduktiv.

Wie ich an anderer Stelle schrieb, sind die von der EU vorgeschlagenen Maßnahmen zur Geschlechtergleichheit dazu gedacht, die wirtschaftlichen Ergebnisse und die Leistung des Arbeitsmarkts in Europa zu optimieren. Daran, die reproduktiven Rechte oder die soziale Gerechtigkeit zu fördern, besteht weniger Interesse. Eine Ausnahme stellt das Thema der sexuellen Gewalt gegen Frauen dar. In diesem Bereich werden die Bemühungen der EU allerdings von ihren eigenen Mitgliedsregierungen vereitelt – einschließlich jener, die der moderaten politischen Mitte angehören: Anfang dieses Jahres haben sich sowohl die bulgarische (Mitte-Rechts)- als auch die slowakische (Mitte-Links)-Regierung geweigert, die Istanbul-Konvention zu verabschieden – einen Text, der verfasst wurde, um die staatlichen Bemühungen im Kampf gegen männliche Gewalt an Frauen zu verbessern und den Opfern einen besseren Schutz zu geben.

Diese Entscheidungen wurden angesichts von Bürgerprotesten gegen die „Gender-Ideologie“ gefällt (und in Bulgarien aufgrund einer Entscheidung des Verfassungsgerichts, die die Konvention als nicht verfassungsgemäß einschätzte). Die Proteste bezogen sich dabei allerdings kaum auf das Thema der Gewalt gegen Frauen, sondern beschuldigten stattdessen die Konvention, ideologisch motiviert zu sein und den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu leugnen – eine Behauptung, die durch die Definition von „Gender“ in der Konvention („soziale Rollen, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Eigenschaften, die eine bestimmte Gesellschaft für Frauen und Männer als angemessen betrachtet“) ganz klar widerlegt wird.

Die bereits belasteten Bemühungen der EU, die Istanbul-Konvention gemeinsam zu ratifizieren, wurden durch diese Entwicklungen weiter torpediert. Bereits zuvor waren sie von Gegnern der „Gender-Ideologie“ durch einen offenen Brief von über 300 (meist abtreibungsfeindlichen) NROs kritisiert worden. Die Kritiker wiesen darauf hin, dass die EU-eigene Interpretation der Istanbul-Konvention „geschlechtsspezifische Gewalt“ über den Zusammenhang des Textes (also über männliche Gewalt gegen Frauen) hinaus als „Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts, ihrer geschlechtlichen Identität oder ihres geschlechtlichen Ausdrucks richtet“ zu definieren scheint.

Die Opposition gegen die „Gender-Ideologie“ hat sich zu einer sehr potenten Organisationsform des Widerstands gegen das Establishment und des Protests gegen die neoliberale Ordnung entwickelt.

Angesichts der Unstimmigkeiten innerhalb und zwischen der feministischen und der LGBTI-Bewegungen sowie der mangelnden Bereitschaft der EU, sich mit wichtigen Fragen der Geschlechtergleichheit zu beschäftigen, stellt sich die Frage, warum diese progressiven Gruppen von Gegnern der „Gender-Ideologie“ angegriffen werden und wie diese Kritiker so viel Unterstützung um sich sammeln konnten. Dafür scheinen nicht nur die Werte dieser Bewegung verantwortlich zu sein, sondern auch eine Ernüchterung über die „Weiter-so“-Einstellung der politischen Mitte und der alles durchdringenden neoliberalen Politik der EU und ihrer Mitgliedsregierungen.

Die Opposition gegen die „Gender-Ideologie“, darunter auch gegen die Bemühungen um die Optimierung des Arbeitsmarkts, hat sich zu einer neuen und sehr potenten Organisationsform des Widerstands gegen das Establishment und des Protests gegen die neoliberale Ordnung entwickelt. Sie verdeutlicht perfekt die steigende Unzufriedenheit über die liberale Demokratie und ihres ausgeprägten Diskurses über die Menschenrechte und den Schutz der Minderheiten – und über die Tatsache, dass es großen Teilen der Bevölkerung an sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit mangelt. Beispiele für diesen Trend sind weltweit sichtbar – von Brasilien über die USA bis hin zu westeuropäischen Ländern wie Frankreich und Spanien.

In Zentral- und Osteuropa wurde die „Gender-Ideologie“ zu einem Mittel, um die Ablehnung der europäischen Ost-West-Hierarchie und der gescheiterten Versprechen des kapitalistischen Wandels auszudrücken. Tatsächlich hinkt die wirtschaftliche Entwicklung und der Lebensstandard in diesen Ländern immer noch hinterher – trotz der Versicherung, durch Sparmaßnahmen und Marktliberalisierung könne die Region „gegenüber dem Westen aufholen“. Was dort stattdessen – häufig auf herablassende Weise – eingeführt wurde, waren Lektionen über die „richtigen“ Einstellungen und Werte. Die Wählerschaft lehnt die Prinzipien der Geschlechtergleichheit und die LGBTI-Rechte nicht aufgrund ihrer zivilisatorischen „Rückständigkeit“ ab, sondern weil sie eine tiefe Ablehnung dagegen empfindet, wie die neoliberalen Entscheidungsträger mit Grundrechten umgehen, die über den sozialen oder wirtschaftlichen Bereich hinausgehen.

Ein perfektes Beispiel dafür ist, dass sich EU ihren Schwerpunkt auf die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt legt und diese als Indikator für die Gleichheit der Geschlechter oder die „Emanzipation“ betrachtet. Eine solche Logik entspricht dem überwiegend neoliberalen Regierungsmodell der EU, das insbesondere in Zeiten des wirtschaftlichen Rückgangs sowohl die Teilnahme von Frauen am Markt für bezahlte Arbeit als auch ihre (unbezahlten) reproduktiven Tätigkeiten und Fähigkeiten benötigt, um weiter funktionieren zu können.

Der dauerhafte Trend einer neoliberalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beim gleichzeitigen Abbau von Sozialmaßnahmen war der ursprüngliche Grund dafür, dass die Gegner der Gleichberechtigung so viel Zulauf bekommen konnten.

Diese Botschaft wird in erster Linie auf eine wertbesetzte oder normative Weise übermittelt: Einer der besten Wege, Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu erreichen, bestehe darin, die gleiche Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Je mehr die Arbeitsmarktstruktur eines Landes von diesem Ideal abweicht, desto stärker müsse es „aufholen“, um dem entwickelten und aufgeklärten Club der „alten“ Mitgliedstaaten angehören zu können – ganz zu schweigen davon, dass die zunehmende Möglichkeit von Frauen, in westeuropäischen Staaten bezahlte Arbeit anzunehmen, für die (oft unterbezahlte und unregulierte) Pflegearbeit ost- und zentraleuropäischer Frauen genutzt wird.

Dieses Modell der „Ermächtigung“ durch den Arbeitsplatz steht in völligem Widerspruch zur Erfahrung, die viele polnische Frauen seit dem Übergang mit dem neoliberalen Arbeitsmarkt gemacht haben. Diese Erfahrung war weit davon entfernt, emanzipierend zu sein. Diese Frauen sind es, die seit der Deregulierung des Arbeitsmarkts nach 1989 in gering bezahlten, schlecht angesehenen Dienstleistungs- oder Industriejobs arbeiten und damit den größten Teil der Folgen des wirtschaftlichen Übergangs tragen mussten.

Immer noch entscheiden sich die Wähler zunehmend für Parteien, die der „Gender-Ideologie“ den Krieg erklärt haben (unabhängig davon, ob dies nun wegen oder trotz dieser Position der Fall ist). Wollen die progressiven politischen Bewegungen diese Menschen zurückgewinnen, müssen sie darüber nachdenken, inwieweit dies vielleicht nicht nur am Widerstand gegen die Rechte bestimmter Gruppen liegt, sondern auch an der Ablehnung der neoliberalen Weltordnung. Der ursprüngliche Grund dafür, dass die Gegner der Gleichberechtigung so viel Zulauf bekommen konnten, war der dauerhafte Trend in Richtung einer neoliberalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beim gleichzeitigen Abbau von Sozialmaßnahmen. 

Tut man die Sorgen der Wähler daher als „rückständig“ ab, stellt man heiß umkämpfte Probleme als gelöst oder über jede Diskussion erhaben dar und verunglimpft man die Kritiker progressiver Positionen, die aus der Bewegung selbst stammen, als „nützliche Idioten“ der Rechten, muss man sich nicht wundern, dass die Wähler einen Mangel an Anerkennung und Vertretung spüren. Jedes politische Programm, das diesen Trend umkehren will, muss die entsprechenden Probleme lösen und Maßnahmen einführen, die die sozioökonomischen Bedürfnisse im Bereich der Geschlechtergleichheit und der Unterstützung für Minderheiten auf schlüssige Weise erfüllen.

Dieser Artikel wurde am veröffentlicht Internationale Politik und Gesellschaft.