Am Abend des 1. August 1914 – die Sirenen der Kruppschen Fabrik haben gerade den Schichtwechsel angezeigt – macht unter der Bevölkerung Essens die Nachricht von der Anordnung der Mobilmachung die Runde. Schon eine Viertelstunde später werden in der Krupp-Verwaltung die ersten Einberufenen abgefertigt. Vor dem Essener Bahnhof sammelt sich wie bereits am Tag zuvor eine Menschenmenge. Man singt patriotische Lieder.

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enige Tage später erscheint im „Allgemeinen Beobachter“, einer sozialdemokratischen Zeitung der Industriestadt im Westen Deutschlands, ein „Aufruf zum Kriegs-Liebesdienst“, einer Art Spendensammlung. In ihm heißt es:

„Für das Vaterland stürmen unsere tapferen Scharen mit todesmutiger Begeisterung und Vertrauen auf unsere gerechte Sache hinaus über die Grenzen, um der Welt zu zeigen, was wir vermögen, wenn frevelhaft das scharfe, deutsche Schwert aus der Scheide gezwungen wird.“

Neben dem Oberbürgermeister der Stadt Essen haben ihn auch der christliche Gewerkschafter Christian Kloft, der Sekretär des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes Otto Hue und der Krupp-Direktor Alfred Hugenberg unterzeichnet. Letzterer ist auch als Mitbegründer des extrem nationalistischen „Alldeutschen Verbandes“ bekannt.

Von revolutionären Bekenntnissen zum Burgfrieden

Dass sich zu Beginn des 1. Weltkriegs ein Funktionär des Christlichen Metallarbeiterverbandes im Rausch der Siegeszuversicht an der Seite des Krupp-Managers und Verbandsvertreters der Schlotbarone und Zechenherren wiederfand, war nachvollziehbar. Der mit der Zentrumspartei politisch verbundene CMV teilte, bei aller Kritik an arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Zuständen des Kaiserreichs, deren grundsätzlich monarchistische und patriotische Ausrichtung.

Anders dagegen die zur sozialistischen Bewegung zählenden Freien Gewerkschaften, zu deren Führungskräften Hue gehörte. Sie hatten wie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bis dahin eine internationalistische Orientierung vertreten. 1907 beschloss ein Internationaler Sozialistischer Kongress in Stuttgart:

„Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitende Klasse und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet (…) alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch eine Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“

1912 war dieses Bekenntnis zu einer länderübergreifenden revolutionären Politik gegen den Krieg noch einmal bekräftigt worden. Und noch wenige Tage vor dem Beginn der ersten Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts, am 25. Juli, knapp einen Monat nach dem Attentat von Sarajevo, hatte die Sozialdemokratie die Regierung aufgefordert, „sich jeder kriegerischen Einmischung zu enthalten.“ Weiter hieß es in einem Aufruf an die Arbeiterschaft: „Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen. (…) Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung.“ Auch die Essener SPD hatte diesen Aufruf aufgegriffen und Ende Juli wie viele andere Gliederungen der Partei mehre Kundgebungen organisiert. Doch nachdem das deutsche Kaiserreich Russland und Frankreich am 1. und 3. August den Krieg erklärte, unterstützte am 4. August 1914 die Reichstagsfraktion der SPD in krassem Gegensatz zu allen vorangegangenen Bekundungen durch Zustimmung zu den Kriegskrediten die Politik der Regierung.

Zwei Tage zuvor hatte die Generalkommission der freien Gewerkschaften unter dem Vorsitz von Carl Legien getagt, der in Personalunion auch sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter war. Ihr gehörten die Spitzen der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften an. Nicht ein Wort war über Maßnahmen zur Abwehr der drohenden Kriegsgefahr gefallen. Stattdessen diskutierte man darüber, wie das Eigentum der Gewerkschaften vor eventueller Beschlagnahme geschützt werden könne. Außerdem wurde ein Streikverzicht für die Dauer des Krieges erwogen – und zwei Wochen später formell beschlossen. An die Stelle der internationalen Solidarität gegen den Krieg war innerhalb weniger Tage die als „Burgfrieden“ bezeichnete Unterstützung der eigenen Regierung für den Sieg getreten.

An der Seite der Kriegstreiber

Über die Motive für diesen krassen Kurswechsel der Führungen von SPD und freien Gewerkschaften wird bis heute kontrovers diskutiert. Wahrscheinlich hat ein ganzes Bündel von Gründen eine Rolle gespielt. Viele glaubten wohl, es ginge um die Verteidigung Deutschlands gegen den zaristischen Despotismus Russlands. Die verbreitete Kriegsbegeisterung der ersten Augusttage wird ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Furcht vor einem neuen Sozialistengesetz. Dass die „Internationale“ am Vorabend des Krieges de facto auseinanderfiel, mag ein Übriges dazu beigetragen haben.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Argument vom deutschen Verteidigungskrieg fadenscheinig wurde. Im Grunde war schon der deutsche Einmarsch nach Belgien am 3. August, der den Eintritt Großbritanniens in den Krieg nach sich zog, damit unvereinbar. Vollends unglaubwürdig wurde es vor dem Hintergrund immer weiter ausufernder, teils öffentlich, teils mittels vertraulicher Denkschriften geführter Kriegsziel-Diskussionen in der deutschen Politik und Wirtschaft. „Belgien muss deutsch werden“, forderte Hugenbergs „Alldeutscher Verband“, während die Schwerindustrie an Plänen zur Annexion des lothringischen und nordfranzösischen Erz- und Kohlebeckens arbeitete. Paul Reusch, Generaldirektor der Oberhausener Gutehoffnungshütte und einer der Scharfmacher, erklärte: „Wenn wir Weltpolitik betreiben wollen, müssen wir England die Faust auf die Nase setzen und unser Gebiet nach dem Westen erweitern.“ Das waren keine Außenseiterpositionen. Die Durchsetzung der wirtschaftlichen Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa und territoriale Zugewinne in Belgien, Luxemburg, Nordfrankreich, im Osten und selbst in Afrika waren Ziel deutscher Regierungspolitik.

Für die Generalkommission war all das kein Anlass zur Korrektur ihrer politischen Linie, auch nicht, nachdem Millionen Arbeiter auf beiden Seiten der Fronten in den Materialschlachten verreckten. Verbal hielt sie an der Fiktion des Verteidigungskrieges fest. Tatsächlich ging es ihr, wie eine Flugschrift vom Mai 1916 zeigt, um „Deutschlands Anteil an der Weltproduktion und am Welthandel“, von dem das „Gedeihen der deutschen Arbeit“ abhinge. Nicht Solidarität mit den Arbeitern aller Länder, sondern der Schulterschluss mit dem nationalen Kapital verbürgte in dieser Logik den sozialen Fortschritt, unter dem die Gewerkschaftsführer nicht zuletzt die Anerkennung der Gewerkschaften durch Unternehmer und Staat verstanden. Das befand sich zwar im krassen Gegensatz zu aller freigewerkschaftlichen Programmatik der Vorkriegszeit, hatte sich aber in manchen Aussagen führender Gewerkschafter bereits angebahnt. So etwa bei Gustav Bauer, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Generalkommission, der bereits vor 1914 die Kriegsfrage zu einem bloß taktischen Problem erklärte. Es gelte „für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und danach ihr Verhalten auszurichten.“ Mit dem Sieg der Kapitalisten des eigenen Landes werde dessen Industrie emporblühen und es auch dem Proletariat durch Lohnerhöhungen und sinkende Arbeitslosigkeit besser gehen.

Vaterländischer Hilfsdienst und Protestbewegung

Als im Dezember 1916 das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ erlassen wurde, glaubten sich die Gewerkschaftsführer am Ziel. Arbeiter- und Angestelltenausschüsse sollten jetzt in allen kriegswichtigen Betrieben eingerichtet werden, die Gewerkschaften in paritätischen Ausschüssen gemeinsam mit den Unternehmern strittige Fragen entscheiden. Einer der ihren, Alexander Schlicke vom „Deutschen Metallarbeiterverband“, wurde gar auf einen Posten im für kriegswirtschaftliche Fragen zuständigen Kriegsamt berufen. Der Preis: Die Bereitschaft der Gewerkschaften, direktes Organ der Militarisierung der Arbeit und Mobilisierung aller Kräfte für den Krieg zu werden, der für das Kaiserreich freilich längst nicht mehr zu gewinnen war. „Jeder muss in der heimischen Arbeitsarmee seinen Platz einnehmen“, erklärte die Generalkommission und der Deutsche Metallarbeiterverband sah im Hilfsdienstgesetz einen „ungeheuren Fortschritt.“

Von einer wachsenden Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeiter im ganzen Land wurde diese Einschätzung nicht geteilt. 1916 hatten Metallarbeiter in Hannover, Braunschweig und Berlin gestreikt, unter anderem gegen die Verurteilung des Kriegsgegners Karl Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Die kriegsbedingt schlechte Ernährungslage führte im April 1917 zu einer Ausweitung der Streikbewegung über die Industriestädte des ganzen Reiches. Allein in Berlin legten 200.000 in 319 Betrieben die Arbeit nieder. Politische Forderungen nahmen an Bedeutung zu. Am 28. Januar 1918 versammelten sich in Berlin 414 Delegierte, die rund 400.000 Streikende repräsentierten, und verlangten unter anderem: Frieden ohne Annexionen, Hinzuziehung von Arbeitervertretern zu den Friedensverhandlungen, Verbesserung der Lebensmittelversorgung, Aufhebung der Militarisierung der Betriebe, Freilassung aller politischen Gefangenen und Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen. Die Generalkommission sah keinen Anlass zu Selbstkritik, noch zu politischer Neuausrichtung. Die Massenbewegung gegen den Krieg war für sie lediglich „Revolutionsspielerei“ und das Werk „anonymer Agitatoren“. Doch der militärische und politische Zusammenbruch des Kaiserreiches erwies sich als unausweichlich. Seit August 1918 forderte die Oberste Heeresleitung angesichts der desaströsen Lage den Waffenstillstand und Friedensschluss. Mit der Meuterei der Matrosen Ende Oktober 1918 und der reichsweiten Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten in den folgenden Wochen war die alte Ordnung am Ende.

Auch die Essener Krupp-Arbeiter, die lange als kaisertreu gegolten hatten, waren seit 1916 Teil der Protestbewegung. Noch im September 1918 war Wilhelm II. nach Essen geeilt, um die Einheit von Thron und Amboss zu demonstrieren. Das Vorhaben scheiterte kläglich. Als er sich bei einer Besichtigung des Werkes in patriotischen Phrasen erging, antworteten die umstehenden Arbeiter mit Rufen nach Frieden. Er soll das Werk fluchtartig verlassen haben.

Verhängnisvolle Politik

Im Rückblick kann man den Kurs der Generalkommission (und der Mehrheit der mit ihr verbundenen Sozialdemokratie) nur als verhängnisvoll bezeichnen. Sicher: Der Ausbruch des Krieges wäre auch bei anderen politischen Entscheidungen der Führung der freien Gewerkschaften kaum zu verhindern gewesen. Aber ihr Übergang in das Lager der Unterstützer des Krieges zerstörte die Perspektive des organisierten Widerstandes gegen das Völkermorden. Sie hätte auch internationales Gewicht gehabt, war doch die deutsche Gewerkschaftsbewegung mit Abstand die stärkste weltweit und vertraten doch auch die anderen kriegführenden Mächte mehr oder weniger offensichtliche imperialistische Ziele.

Der Weg der Generalskommission und des 1919 aus ihr hervorgehenden Bundesvorstandes des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (Vorsitzender: Carl Legien) blieb verhängnisvoll über den Krieg hinaus. Sicherte der aus der Revolution hervorgegangene Volksbeauftragte und spätere Reichspräsident Ebert durch ein Abkommen mit dem General Groener dem reaktionären Offizierskorps das Überleben, so half Legien durch sein Abkommen mit dem Ruhrindustriellen Stinnes der Schwerindustrie im Wesentlichen unbeschadet durch die Revolution zu kommen. 15 Jahre später waren es Reichswehr und Industrie mit dem anfangs erwähnten Hugenberg, die die Republik von Weimar zerstörten und den Weg in die faschistische Diktatur ebneten, deren erstes Opfer die Gewerkschaftsbewegung wurde. Die ins Exil getriebene SPD stellte in ihrem Prager Manifest von 1934 fest:

„Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm (1918) ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vorneherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den (…) die deutsche Arbeiterbewegung beging.“

 

Dieser Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht auf Gegen Blende.