Die Religionspolitik ist wieder auf der politischen Tagesordnung. Zahlreiche religionspolitische Themen werden wieder intensiv diskutiert. Wir sprachen mit Dr. Ellen Ueberschär, Co-Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung über den Islam in Europa, die Rolle der Kirchen in der Flüchtlingspolitik, das Verhältnis der Kirchen zur AfD und ob die Kirche sich in die Politik einmischen sollte. 

Green European Journal: Zahlreiche religionspolitische Themen vom islamischen Religionsunterricht bis zur Einführung von christlichen Kreuzen in Bayerns Behörden werden kontrovers diskutiert. Wie siehst Du die gegenwärtige Situation – vor welchen religionspolitischen Herausforderungen stehen wir?

Ellen Ueberschär: Es wäre absurd, zu behaupten, dass mit dem bayerischen Kreuzerlass das Thema Religion zurückgekommen wäre. Das war ein Aufhänger, um ein bestimmtes politisches Milieu anzusprechen.

Die zentrale Frage ist: wie integrieren wir unter den Bedingungen der Liberalität und Pluralität, den Islam und andere Religionsgemeinschaften. Deutschland hat ein einmaliges Religionsverfassungsrecht. Anders als in laizistischen Staaten sieht das Grundgesetz keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Diese fördernde Neutralität hat eine zähmende Wirkung auf die Religion. Diskutiert wird, ob der Islam, wie übrigens die jüdischen Gemeinden oder die Bahai auch integriert werden könnte, wohlwissend, dass es nicht den Islam gibt. Die anhaltende Diskussion, die unterschiedlichen Bewertungen, die Ängste und Projektionen zeigen: Das ist eine große Herausforderung. 

Was stellst Du Dir darunter vor? In der öffentlichen Diskussion wird ja zurzeit eine Moscheesteuer, ähnlich der Kirchensteuer, diskutiert. 

Der Hintergrund dieser Debatte ist die Frage der ausländischen Finanzierung. Der in Deutschland sehr große Verband der DITIB hat sich durch seine Abhängigkeit von der türkischen Religionsbehörde vollkommen diskreditiert. Es ist für viele, auch für mich, unerträglich, dass die autoritäre Politik Erdogans das Leben in deutschen Moscheen bestimmt, z.B. durch inhaltliche Vorgaben für das Freitagsgebet, durch Austausch von Gemeindeverantwortlichen oder die Entsendung von Imamen. Hinter der Moscheesteuer steht die Idee, dass die Gemeinden – deren größtes Problem durchweg ihre Finanzierung ist – eigene Einnahmequellen haben, die sie unabhängig von ausländischer Einflussnahme machen. Klingt einfach, ist aber kompliziert. Voraussetzung für das Steuerprivileg ist die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Voraussetzungen dafür erfüllen aber die muslimischen Gemeinden in ihrer Mehrheit im Moment nicht. Ich bin sehr dafür, dass der deutsche Staat alle Möglichkeiten ausschöpft, um muslimischen Gemeinden, die sich positiv auf das Gemeinwesen mit ihrer Arbeit beziehen, zu unterstützen und auch dadurch Anerkennung zu zeigen.  Nun stehen wir nicht bei Null. Es gibt in Deutschland eine knappe Handvoll Zentren für Islamische Studien, es gibt muslimischen Religionsunterricht, Regelungen für Bestattung und Seelsorge. Bei allen wilden Reformvorschlägen muss man auch sehen – die alltagspraktischen Regelungen schaffen mehr Vertrauen und Integration als die größeren, mit vielen juristischen Unsicherheiten behafteten Fragen. 

Ist das Thema Einwanderung religionspolitisch nicht auch eine Herausforderung für das Christentum? Eine Studie des PEW Research Centre kam zum Ergebnis, dass christliche Identität einher geht mit einem höheren Grad von negativen Gefühlen gegenüber Einwanderern und religiösen Minderheiten.

Natürlich! Viele traditionell orientierte Christinnen und Christen sehen die Gefahr, dass die Kirchen leer sind und die Moscheen voll. Das ist eine reale Erfahrung, die nicht vor der Hand zu weisen ist. In vielen Studien kann man sehen, dass die Islamfeindlichkeit unter evangelischen Christen höher ist, als im Durchschnitt der Bevölkerung. Das ist ein Problem. In meiner Zeit als Generalsekretärin des Kirchentages, diesem großen öffentlichen Forum des Protestantismus, haben wir diesen Tendenzen intensiv und aktiv entgegengewirkt: Wir haben den interreligiösen Dialog gefördert, Begegnung unmittelbar vor Ort organisiert und große Foren zu Fragen wie Religion und Gewalt, Religion und Staat, multireligiösem Zusammenleben initiiert. Begegnung ist eine Schlüsselfrage, weil viele Ressentiments gegen Muslime nicht rational erklärbar sind, sondern sich aus Vorurteilen und einer mentalen Tiefendisposition speisen, die nicht so leicht aufzubrechen ist. Religion bedeutet Bindung. Und je reflektierter und transparenter diese Bindung ist, umso geringer ist die Anfälligkeit für  fundamentalistische Thesen.  

Religion spielt sich in der Öffentlichkeit ab und nicht nur im Privaten. Das heißt, dass Kirchen sich in den öffentlichen Diskurs einmischen müssen, wie viele andere auch.

Innerhalb des Protestantismus gibt es im Moment auch Diskussionen darüber, ob die gestiegenen Kirchenaustrittszahlen auf die klare Positionierung für die Flüchtlingsaufnahme zurückzuführen sind. Bis heute wird die Kanzlerin in ihrer Entscheidung, 2015 die Grenzen nicht zu schließen, unterstützt. Und das ist kein reines Lippenbekenntnis. Das Kirchenasyl wurde stärker genutzt, Partnerschaften mit den verfolgten Christen im Nahen Osten wurden intensiviert und die kirchlichen Werke, wie Caritas und Diakonie, haben sich sehr stark institutionell und finanziell in  der Flüchtlingsaufnahme und Integration engagiert.  

Aber – ganz offensichtlich gibt es auch Christinnen und Christen, die die Flüchtlingsaufnahme und die eindeutige Positionierung der Kirchen kritisieren.  Ich persönlich sehe nicht, auf welcher biblischen Grundlage Argumente gegen eine Flüchtlingsaufnahme sinnvoll wären. Kein Thema ist in der Bibel, in der fast nichts eindeutig ist, so klar wie die Aufnahme von Fremden als ein Ausdruck der Gottesfurcht.

Manche meinen, Rechtspopulisten würden die Kirche unterwandern. 

Ja, das ist eine These von Liane Bednarz. Ihr neues Buch gibt einen guten Überblick über die unterschiedlichen Strömungen in den beiden großen Kirchen. Aber das darf man nicht überbewerten. Ich sehe keine Unterwanderung der Kirchen durch Rechtspopulisten. Es ist nicht so, dass die Zahl der Menschen, die Rechtsaußen-Positionen in den Kirchen vertreten, zugenommen hat. Es sind immer wieder die gleichen Protagonisten, die schon seit 20 oder 30 Jahren mit den gleichen Themen – Polemik gegen Genderthemen, Homophobie und Islamfeindlichkeit – unterwegs sind. Was sich geändert hat, ist, dass mit der Alternative für Deutschland eine politische Plattform entstanden ist, in der  diese isolierten Strömungen zusammenfinden. Dadurch gehören sie auf einmal einer Bewegung an, vernetzen sich besser und sind präsenter, wozu die sozialen Medien als Verstärker natürlich ihren Beitrag leisten.  

Wie muss man darauf reagieren? 

Mit Argumenten, mit offenen Diskussionen. Da stehen Kirchen und einzelne Gemeinden vor denselben Problemen wie alle anderen – Rechtsautoritäre und rechtspopulistische Stimmen einladen und ihnen damit eine Bühne geben? Oder sie ausladen und damit ihr Opfergehabe bestätigen? Dennoch – es muss geredet werden. In den Kirchen und außerhalb. Allerdings – der Einfluss der Kirchen auf die Wählerschaft der AfD ist begrenzt. In Sachsen zum Beispiel  ist das Wählerpotenzial der AfD sehr hoch, aber die Mehrzahl kommt gar nicht in die Kirche. Dementsprechend kann man also diesen Konnex nicht machen zwischen AfD Hochburgen und evangelischer Kirche in Sachsen. In Baden-Württemberg sieht das etwas anders aus. Dort sind die Spielarten eines  fundamentalistischen Christentums außerhalb der Landeskirche relativ präsent. 

Wie ist die Situation auf europäischer Ebene? Gibt es dort große Unterschiede zwischen den Kirchen beim Thema Migration?

Das lässt sich nicht eindeutig sagen. In Italien zum Beispiel haben die reformierten Waldenser zusammen mit der katholischen St. Egidio-Gemeinschaft ein großes Projekt aufgelegt – Mediterranean Hope, das Seenotrettung, Resettlement und unmittelbare Flüchtlingsaufnahme umfasst. In Brüssel gibt es eine konfessionsübergreifende Koordination für Migrations- und Integrationsfragen für alle Kirchen in Europa. Natürlich haben es die Kirchen und die Stimmen in den Kirchen schwer, wo die nationale Regierung migrationsfeindliche Politik betreibt, wie z.B. in Ungarn.

Was kann denn der christliche Glaube zum europäischen Projekt beitragen?

Ganz viel! Die Geschichte Europas ist ohne das Christentum nicht denkbar. Es ist ein wesentlicher Teil des kulturellen Erbes.   Nehmen wir einmal die Geschichte vom barmherzigen Samariter, der eben nicht an dem Verletzten vorbeigeht, sondern ihn auf seinen Esel legt, die Wunden verbindet, in eine Herberge bringt und den Wirt dafür bezahlt, dass er sich weiter um ihn kümmert. Das ist das komplette Gegenbild zur Spätantike, die sich vom Sterbenden abwendet und ihn verbluten lässt.  Das war Teil des   antiken Menschenbildes. Das christliche Menschenbild der Nächstenliebe, der Solidarität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das ist die Grundidee Europas. Das verbindet Europa, auch wenn es leicht ist, historische Beispiele für Gewalt und Krieg zu finden. 

Aber ist Europa dann ein christliches Projekt?

Es ist auch ein christliches Projekt. Schuman und De Gaulle zum Beispiel, wesentliche Figuren der Gründung der Europäischen Union,  waren  Katholiken. Die haben das Friedensprojekt Europa auch aus religiösen Motiven gemacht. Neben den wirtschaftlichen und politischen Argumenten stand die Idee, dass es etwas zu verteidigen gibt und zwar die positive Seite des christlichen Erbes Europas. Es ist nicht nur ein christliches, sondern ein religiöses Erbe, weil der Islam auch entscheidenden  Einfluss auf die europäische Entwicklung genommen hat. Das ist natürlich verdrängt worden. Aber es gibt einen positiven europäischen Zusammenhalt auf christlicher Basis, an den man anknüpfen kann. Ein Projekt  ist zum Beispiel der Europäische Kirchentag. Die Idee ist faszinierend: Dass Menschen aus ganz Europa auf der Basis ihrer Religiosität zusammenkommen und eine gesamteuropäische Versammlung organisieren, sich austauschen und damit den europäischen Zusammenhalt repräsentieren, auch das schafft eine europäische Öffentlichkeit, die wir so dringend brauchen. 

Religion bedeutet Bindung. Und je reflektierter und transparenter diese Bindung ist, umso geringer ist die Anfälligkeit für  fundamentalistische Thesen.

Im Mai finden die Europawahlen statt. Welche Rollen sollten die Kirchen dabei spielen? 

Keine. Ich hoffe die Zeiten sind vorbei, dass die Kirchen politische Empfehlungen machen, welche Partei man wählen soll und welche nicht. Ich bin strikt der Meinung, dass die Kirchen keinen parteipolitischen Einfluss nehmen sollen. Das ist nicht die Aufgabe der Kirchen. Europa zu thematisieren und den europäischen Zusammenhalt durch ökumenische Arbeit zu stärken, das natürlich immer!  

Sollte sich die Kirche nicht in die Politik einmischen?

Nicht in die Parteipolitik, ansonsten aber sollten Kirchen durchaus politische Verantwortung wahrnehmen. Die hochpolitische Flüchtlingsfrage war ja schon ein Beispiel. Man kann sich nicht nach einem Religionsgründer benennen, der ein radikales Friedens- und Gerechtigkeitsprojekt verfolgt hat und dann sagen: Aber heute gehen uns die öffentlichen Angelegenheiten nichts an.  Eines ist für mich klar – Religion spielt sich in der Öffentlichkeit ab und nicht nur im Privaten. Das heißt, dass Kirchen sich in den öffentlichen Diskurs einmischen müssen, wie viele andere auch. Natürlich müssen sie den pluralen Diskurs und andere Meinungen akzeptieren. Und ich selbst habe Kirche in Zeiten erlebt, wo ihre politische Funktion darin bestand, in einem Land, das den politischen Diskurs erstickt hatte, einen Raum zu schaffen, in dem über Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung geredet werden konnte – das waren die 1980er Jahre in der DDR. 

Als Parteimitglied der Grünen, wie siehst du das Verhältnis zwischen Bündnis 90 / Die Grünen und Religion?

Bündnis 90 / Die Grünen ist die einzige Partei, die ein Religionspapier erarbeitet hat. Wir sind da klarer Vorreiter. Eine Kommission von grünen Christinnen, Muslimen, Juden und  Konfessionslosen hat sich gründlich mit Fragen der Religionspolitik auseinandergesetzt und das hat zu einem Parteitagsbeschluss geführt.  Das ist eine Positionierung, die andere Parteien nicht haben. Natürlich sind nicht alle Fragen geklärt worden, aber wir haben eine gute Grundpositionierung, wie Religion in einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft gelebt werden kann.
Für mich sind Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit Teil meiner christlichen Identität und diese Werte haben mich – ja fast in ganz natürlicher Weise – in das Bündnis 90 und zu den Grünen geführt.