Die Angst geht um in Frankreich. Von einem „Erdbeben“, einem „Tsunami“, einem „Vulkanausbruch“ schrieben die Zeitungen am Tag nach der Europawahl. Wie konnte es sein, dass im Lande der Menschenrechte, in dem seit 200 Jahren über jedem Rathaus die Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eingemeißelt sind, der Front National des Demagogen Jean-Marie le Pen, der „die Ungleichheit der Rassen“ propagiert, 25% der französischen Wähler auf seine Seite gezogen hat? Wie konnte es sein, dass seine Tochter Marine le Pen, eine Todfeindin der europäischen Union, über Nacht zu einem Star wurde, um den sich die seriösesten europäischen Zeitungen und Fernsehanstalten reißen? Was ist mit Frankreich los? Und wieso will die Tochter die von ihrem Vater gegründete Partei „dediabolisieren“, was doch heißt: den Teufel austreiben? Unterdessen ist Jean-Marie le Pen, weit davon entfernt, vertrieben zu werden, Ehrenpräsident der Partei und seine Tochter verteidigt jeden seiner rassistischen Ausfälle. Seine jüngst aus Marseille überlieferte Bemerkung, „Monsignore Ebola“ könne „das Problem der Überbevölkerung Afrikas in drei Monaten regeln“ wurde von ihr als „Sorge“ um die Afrikaner gedeutet. Sorge? Zynismus pur. Und seine am 7. Juni an den jüdischen Sänger  Patrick Bruel adressierte Drohung, aus ihm „eine Ofenladung zu machen“, nannte sie zwar „mißinterpretiert“ – und „politisch falsch“.  Nicht „moralisch“ falsch

wohlgemerkt. Der Alte hatte schon die Gaskammern höhnisch „ein Detail des Zweiten Weltkriegs“ genannt. Er war rechtskräftig verurteilt worden, aber er muss dafür sorgen, dass der harte Kern des FN, für den seine taktisch agierende Tochter zu lau ist, bei der Stange bleibt.

Es gäbe in der Tat, den Front National betreffend, ein Geschwader von Teufeln zu exorzieren, denn unter den ersten Mitgliedern der von Jean-Marie le Pen mitgegründeten Partei befanden sich Offiziere der französischen SS Division Charlemagne, Veteranen der berüchtigten Milice, einer Hilfsorganisation der Gestapo, die sich bei der Judenverfolgung und der Ermordung von Partisanen hervorgetan hatte sowie der OAS (Organisation armée secrète), einer politisch-militärischen Terrororganisation, die in Frankreich und Nordafrika Politiker, Journalisten und sonstige Befürworter der Dekolonisierung Algeriens ermordete. Der Front National war bei seiner Gründung am 12. Oktober 1972 eine Versammlung von Fememördern und faschistischen Gangstern.

Und dieser Vereinigung verpassten die Gründungsmitglieder den Namen einer militärischen Kampforganisation: Front National – Nationale Front! Eine Kriegserklärung! Marine le Pen versuchte, eine freundlicheres Wort zu finden, sie nannte die Bewegung während der Präsidentialwahlen 2012 „Bleu Marine“: Marineblau, um den Rußgeruch des alten Namens auszutreiben. Aber der Vater, der seiner Tochter nach vierzig Jahren Alleinherrschaft am 15. Januar 2011 das Zepter in die Hand gab und die rechtsextremistische Partei quasi in eine Erbmonarchie verwandelte, widersetzte sich hartnäckig jedem Versuch, den Taufnamen seiner Partei zu modifizieren.

Eine Institution wird so nachhaltig von den Spuren geprägt, die man ihrer Geburt aufdrückt, dass sie sich schwerlich davon erholt. Im Falle des FN ist die politische und familiäre Belastung so groß, dass man sich nicht wundert, wenn Marine le Pen, wird sie von Journalisten ein wenig in die Enge getrieben, sofort ins antikommunistische und rassistische  Wahnsystem ihres Vaters ausbüchst. „99% der französischen Journalisten sind links“ wagte sie den Spiegelreportern zu sagen, die auf so viel Frechheit keine Antwort wussten, und im Cicero behauptete sie, wer aus dem Pariser Viertel Barbès lebend zurückkomme, könne von Glück reden. Barbès ist eines der belebtesten und sympathischsten Viertel von Paris, in dem freilich sehr viele Afrikaner und Araber leben, von denen sie sich in ihrer Luxusvilla von Saint-Cloud offenbar bedroht fühlt. Auch hegt sie eine grenzenlose Bewunderung für Vladimir Putin, der „ genau wie wir die Werte der europäischen Zivilisation und die Erbschaft des Christentums“ verteidige, sagte sie dem Kurier. Die Nächstenliebe wird sie damit kaum gemeint haben.

Ihr Programm „Les Français d’abord“ („Franzosen zuerst“) solle weder als rassistisch noch als xenophob verstanden werden, da sie „gegen die Immigration als solche und nicht gegen den Immigranten als Person“ kämpfe. Die Forderungen: drastische Reduzierung der Einwanderungsquote von 200 000  auf 10 000 Immigranten im Jahr; Sofortiger Stopp der Familienzusammenführungen (völkerrechtswidrig!); Kündigung der Vereinbarungen von Schengen und Ende der freien Zirkulation in Europa; Bevorzugung der französischen Staatsbürger bei der Zuteilung von Wohnungen sowie bei der Berufswahl, es sei denn das Unternehmen könne zweifelsfrei beweisen, dass der Ausländer qualifizierter sei – kurz, eine mildere Ausgabe der Nürnberger Gesetze, sodass sich die Frage nach dem ideologischen Bruch mit dem Vater erübrigt. Sie denken ähnlich, aber reden mit verschiedenen Zungen.

Nur in einer Hinsicht unterscheidet sich Marine le Pen von Ihrem Vater: ihr Hang zum Protektionismus. Protektionismus ist der politische Ausdruck der Angst. Er ist das Zentrum ihres Programms, das in Frankreich auf so großen Zuspruch trifft. Mit der Forderung nach Schutzzöllen und „nationaler Präferenz“ köderte Marine le Pen alle wirtschaftlich Bedrohten, die  Arbeitslosen, die zu 37%, die Arbeiter die zu 43%, die Angestellten, die zu 38%, und die Jugendlichen unter 35 Jahren, die zu 30% Front National wählten – schier unglaubliche Zahlen in Wählergruppen, die früher die sozialistische Partei oder die Kommunisten wählten und jetzt zu denen überlaufen, die sich „Patrioten“ nennen. Frankreich ist desorientiert. Daher die Versuchung, die Schuld bei Sündenböcken zu suchen und gleichzeitig von einem großen Asterixdorf zu träumen, in dem die Gallier friedlich zusammenleben, Wildschweine schlachten und die Palisaden hochziehen. Nur: wie soll sich das vom FN so gern zitierte „einfache Volk“ über Wasser halten, wenn Schutzzölle und die geplante Rückkehr zum inflationären Franc das Leben noch weiter verteuern?

In Wahrheit hat der FN keine wirtschaftlichen Ziele, sondern ideologische. Die wirtschaftlichen Forderungen sind Maskerade. Wirtschaft interessiert Frau le Pen nicht. Der Front National hegt den postkolonialen Traum, Frankreich zur alten Größe zurückzuführen.  Sie glaubt immer noch, Frankreich sei eine Weltmacht – das „Herz Europas“, wie sie in einem Interview sagte. Das Ziel des Front National ist, Frankreich zum Führer der blockfreien Staaten zu machen. Aber die Zeit ist keine Maschine, die zurückläuft, der Traum vom alten Glanz ist Illusion.

Ich lebe seit vielen Jahren in Frankreich und warte immer noch auf einen Politiker, der die Dinge beim Namen nennt. Ob links oder rechts, man sucht die Schuld für die Misere bei den andern, den Immigranten, den Sozialleistungen, den faulen Arbeitslosen, bei den Roma, bei China, beim zu starken Euro, bei den expansiven Deutschen, den arroganten Amerikanern oder den bankrotten Griechen. Wahr ist dass die Krise in Frankreich strukturell ist, weil das Land den Sprung in die Moderne verpasst hat und außer seinem Hochgeschwindigkeitszug TGV, seinen Atomkraftwerken, die es verzweifelt zu verkaufen sucht, und den Airbus, den es mit Deutschland teilt, nur noch alte Industrien besitzt, die digitale Evolution total verschlafen hat und weder Fernsehapparate, Computer noch Handys, nicht einmal Kühlschränke produziert, geschweige den Kameras, um darüber einen Film zu drehen. Frankreich ist ein desindustrialisiertes Land.

Unfähig, eine Lösung zu finden, senkt die Regierung die Steuern hier und erhöht sie dort, spart an den Sozialleistungen, storniert die Lohnerhöhungen für Beamte, ja mischt sich in Übernahmeverhandlungen von maroden Großunternehmen ein, weil in Frankreich seit Ludwig dem XIV der Glaube herrscht, der Staat könne alles richten, und dennoch wächst das Staatsdefizit und verschlimmert sich die Außenhandelsbilanz, erhöht sich die Zahl der Bankrotte und steigt langsam aber unaufhaltsam die Arbeitslosigkeit.

In Frankreich beobachte ich einen eigentümlichen Zerfall des sozialen Gewebes, eine Art  Erschöpfung der Bevölkerung, der die Politiker seit Jahren, außer hohlen Reden über die vergangene Größe, nicht einen einzigen konkreten Plan, die Zukunft betreffend, anbieten – Nichts wird gegen die Versteinerung der Gesellschaft unternommen, in der die  Jugendarbeitslosigkeit explodiert und alle Zugänge zu sozialen Positionen von Seilschaften versperrt sind, sodass man sogar im Dorf Beziehungen haben muss, um Putzfrau im Rathaus zu werden. Man müsste vor allem die Refeudalisierung der Gesellschaft aufhalten, damit Einkommensunterschiede, die die Mittelklassen wegfressen, das Volk nicht weiter in zwei  antagonistische Teile zerfallen lassen. Man müsste Frankreich, damit es aus seiner Katatonie erwacht, von unten bis oben reformieren, und aus der Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit in die Gegenwart katapultieren. Man müsste…

Sonst geschieht Folgendes: Marine le Pen kommt bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in die zweite Runde und gewinnt 2022 die Wahlen. Sie löst die Nationalversammlung auf und überzeugt die Franzosen von der Notwendigkeit, ihr eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Sie setzt alle ihre vergangenen Drohungen in die Tat um. Sie stoppt die Einwanderung, und befiehlt der Kriegsmarine, alle eventuell auf Frankreich zusteuernden Flüchtlingsboote aufs Meer zurückzutreiben. Sie untersagt den Muslimen den Bau von Moscheen und verbietet ihnen zugleich, auf den Straßen zu beten, um sie aus Frankreich wegzuekeln. Sie führt die Todesstrafe ein. Sie tauscht alle französischen Botschafter, Polizeipräfekten, Generäle sowie die obersten Richter und Staatsanwälte aus. Auf all diesen Posten sitzen von nun an Leute des FN. Sie hat unbeschränkte Macht. Sie kann über Auslandseinsätze der Armee entscheiden. Sie kann auf den Atomknopf drücken. Sie kann Aufstände in Afrika und den Banlieues niederschlagen. Sie kann den Ausnahmezustand ausrufen. Sie kann tun, was sie will, und niemand kann sie daran hindern, da ihr die Konstitution alles erlaubt. Die monarchische Struktur der Fünften Republik gibt ihr freie Hand. All dies ist verfassungskonform in der „republikanischen Monarchie“ des General de Gaulle, der die demokratischen Parteien nicht riechen konnte und deshalb einen gewählten Alleinherrscher an die Spitze des Staates stellte. Sein Traum würde endlich wahr – als Albtraum. Frankreich würde auf legalem Wege rechtsextrem.