Trotz eines bundesweiten Gegenwinds sind die Grünen in Schleswig-Holstein wieder mit einem starken Wahlergebnis in die Landesregierung eingezogen. Diesmal allerdings mit einer Jamaika-Koalition (CDU-Grüne-FDP). Wir sprachen mit Robert Habeck, den stellvertretenden Ministerpräsidenten über den Bundestagswahlkampf, Koalitionspolitik, die Rolle der Grünen und seinem neuen Ressort der Digitalisierung.

Roderick Kefferpütz: Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein seit ihr mit 13% drittstärkste Kraft geworden und konntet euch vom schlechten Wahlergebnis der Grünen in Nordrhein-Westfalen und vom Bundestrend abkoppeln. Was war euer Geheimnis?

Robert Habeck: Wir haben Politik für die Breite der Gesellschaft angeboten. Damit ist es uns gelungen, weite Teile der Bevölkerung anzusprechen und nicht nur ein kleines grünes Milieu. Diese Arbeit, die über viele Jahre geleistet wurde, war die Basis für einen Wahlkampf, in dem wir uns vom Bundestrend abkoppeln konnten. Im Wahlkampf selber haben wir dann konsequent auf eine optimistische Gesamterzählung gesetzt mit einem breiten Gesellschaftsangebot und haben uns nicht in Detailproblemen und Einzelfragen verzettelt. Dazu kommt, dass wir uns nicht von anderen Parteien abgeleitet haben. Wir haben über die anderen Parteien einfach überhaupt nicht geredet, sondern über uns und was wir machen wollen. Das hat, glaube ich, verfangen und funktioniert.

Nun seid ihr wieder in der Regierung aber diesmal nicht mit der Küstenkoalition (SPD-Grüne-SSW), sondern mit Jamaika (CDU-Grüne-FDP). Wie verändert sich eure Rolle diesbezüglich?

Es ist noch etwas zu früh, um hier fertige Antworten zu geben. Was sich sicherlich verändert hat, ist die gesamtpolitische Gemengelage. Jamaika ist für die Grünen das unbeliebteste Bündnis. Die Fliehkräfte sind da entsprechend hoch. Themenfelder wie Landwirtschaft oder Umweltpolitik, die in der alten Koalition nicht so sehr im Fokus des Konflikts standen, werden jetzt einfach anders gewichtet werden. Hier muss man nun versuchen, politische Konflikte auszubalancieren, ohne sich dabei auf der Nase herumtanzen zu lassen. Es darf eben nicht passieren, dass die Grünen so eine Art Hilfsrad einer bürgerlichen Koalition sind. Wenn das passiert, wird die Koalition sofort in den Trubel geraten. Wir müssen eine gute Balance finden zwischen grünem Selbstbewusstsein und politischer Klugheit.

Und im Bund? Ist da Schleswig-Holstein mit Jamaika ein Modell?  

Mit Blick auf den Bund muss man schlicht und einfach feststellen, dass die Ausgangslage in Schleswig-Holstein eine ganz andere war. Wir waren schon in der Regierung und wir hatten ein Bomben-Wahlergebnis erzielt. Wir hatten einen klaren Regierungsauftrag und sind entsprechend selbstbewusst an die Sache rangegangen. Es gab nie den Eindruck, wir schlüpfen unter in einer Koalition, die andere definieren. Und damit hatten wir kein schlechtes Gewissen Jamaika zu machen. Dazu kommt, dass wir in Schleswig-Holstein, anders als im Bund, auch eine Erfahrung der Zusammenarbeit mit der FDP in der gemeinsamen Opposition gesammelt haben. Und drittens gab es im Wahlkampf in Schleswig-Holstein einen klaren Verzicht auf persönliche Verletzungen. Denn solche Sachen zerstören Atmosphären und dann hat man schon gar keine Lust sich mit den anderen an einen Tisch zu setzen. Es ist also in Schleswig-Holstein generell anders gelaufen, als es hier im Bund zu laufen scheint.

Die Grünen regieren in zehn Landesregierungen in unterschiedlichsten Farbkonstellationen. Regieren sie in so vielen Bundesländern, weil sie so stark sind oder hat sich grundsätzlich was in der deutschen Parteienlandschaft verändert? Und bleiben die Grünen erkennbar bei all diesen verschiedenen Koalitionen?

In den verschiedenen Konstellationen von Kenia bis Jamaika sieht man, dass sich bestimmte Themen unter grüner Verantwortung überhaupt nicht unterscheiden. Ich kann nicht sehen, dass wir bei Rot-Rot-Grün in Thüringen die Idee einer pragmatischen verantwortungsvollen Politik oder bei schwarz-grün in Hessen die Idee von ökologischer Veränderung verraten. In all den unterschiedlichsten Konstellationen sind die Grünen immer ganz gut erkennbar, allemal in den fachlichen Themen, wie Umwelt, Landwirtschaft und Energie, die ja Kernbereiche unserer Politik sind. Und das ist die Basis einer eigenen Erzählung und eigener Stärke.

Denn so richtig stark sind wir noch nicht. Wenn wir es in Schleswig-Holstein, was nun wirklich ein strukturschwaches ehemaliges Bauern- und Bundeswehrland ist, schaffen 13% zu holen, dann können wir nicht mit plus minus 8% im Bund zufrieden sein. Und das ist die zentrale Frage für die Gesamtpartei: sind wir eine kleine Avantgarde die mit 7% oder 8% den Trend vorgibt und 25 Jahre später kommt die Bundesrepublik hinterhergedackelt, oder sind wir eine Partei die auch in der Gegenwart versucht Orientierung zu geben und zwar so, dass sich die meisten Menschen anschließen. In Schleswig-Holstein jedenfalls haben wir letzteres versucht.

Wie kommt man dahin? Vor allem wenn jetzt Wahlkampf ist.

Wahlkampf ist eine eigene Welt, die sehr oberflächlich ist und häufig nicht so viel mit Inhalten zu tun hat und viel mit sich selbst verstärkenden Effekten. Die zentrale Frage im Wahlkampf ist: Wer hat das Momentum? Wenn Du nicht in der Offensive bist, bist Du in der Defensive. Wie kommt man also in die Offensive? In Schleswig-Holstein haben wir das geschafft. Wir sind mit unserer Erzählung, dass wir in unserem Bundesland eine kleine Volkspartei sind, in den Wahlkampf gezogen. Um das zu untermauern, brauchten wir eine Umfrage, die das stützt. Darauf haben wir uns strategisch konzentriert. Und als die erste Wahlumfrage kam mit 14%, dann lief unsere Geschichte von sich selbst heraus. Das war unser Momentum. Und danach haben alle inhaltlichen Themen uns auch gestützt.

Die Grünen sind ja als Protestpartei quasi aus der Straße entstanden. Haben sie noch Straße in sich, jetzt wo sie in so vielen Landesregierungen sitzen?

Man sollte Straße nicht verwechseln mit einzelnen Gruppen und ihren jeweiligen Partikularinteressen. Straße ist für mich eine breite gesellschaftliche Bewegung. Und da halte ich es für zwingend notwendig, dass wir dieses Straßen- oder Bewegungselement haben, behalten oder zurückholen. Allerdings sehe ich hier eine doppelte Gefahr für uns. Einerseits, dass wir uns in viele einzelne Körnchen auflösen, weil wir Grüne Politik als Summe aller einzelner Bürgerinitiativen definieren. Andererseits, dass wir zur Partei der besseren Verwaltungskunst werden. Damit stehen wir zwischen zwei Polen. Das ist eine große Chance für uns, denn die anderen Parteien stehen viel klarer auf der einen oder anderen Seite. Aber wir müssen halt diesen Balanceakt auch schaffen.

Nun hast Du als Minister zusätzlich das Ressort Digitalisierung bekommen. Ein Thema, dass alles verändert und auch große Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Wie muss man das Thema anpacken?

Man muss es politisch angehen und da liegt gleichzeitig die Herausforderung. Denn die technische Entwicklung bei der Digitalisierung ist sehr viel schneller als die Politik. Deswegen wird das Thema im Moment quasi unpolitisch behandelt. Alle Visionen und Veränderungen die durch die Digitalisierung oder Künstlichen Intelligenz ermöglicht werden, werden nicht politisch gestaltet. Wir stehen an einem Punkt wo wir in Zukunft mit Genetik und Zellenforschung unsere Leben verändern können, eine Art „Mensch 2.0“, wo wir unsere Herzen nachwachsen lassen, Nanoroboter in unserem Blutkreislauf schicken, unsere Körper quasi regelmäßig renovieren und damit 150 oder 200 Jahre alt werden. Da ist die Politik derzeit komplett überfordert.

Und deswegen würde ich ungern ein Digitalisierungsminister sein, der sagt, er habe einen guten Job gemacht, weil er viel Glasfaser angeschlossen hat. Das muss natürlich auch sein, aber es geht um mehr. Es geht dabei auch um die Frage, entlang von welchen Werten sich eine Gesellschaft digital organisiert, und ob wir die Werte der liberalen Demokratie durchhalten, vor allem, wenn wir uns so sehr auslesen lassen von digitalen Technologien, wie wir es nur können.

Wird das genug in Deutschland diskutiert?

Diese Diskussion wird entweder mit Angst oder mit einem naiven Fortschrittsglauben geführt. Also entweder man sagt, so wie die FDP, Digitalisierung ist geil oder man hat eine gewisse Fortschrittsangst. Beides ist oberflächlich und falsch. Wir werden bestimmte Veränderungen nicht aufhalten können und leben die neuen Technologien ja schon. Allerdings ohne zu merken, dass sich damit schon gleich Werte mitverschieben. Ein Beispiel aus meinen Sommerferien: früher habe ich auf Reisen Tagebuch geschrieben. Auf die Idee würden meine Kinder gar nicht kommen. Die machen Instagram-Fotos und teilen das also gleich. Das ist aber nicht nur ein anderes, neues Medium, sondern eine ganz andere Form von Selbstwahrnehmung. Tagebuch ist subjektiv, retrospektiv und reflexiv. Also ein Medium in dem das Individuum sich überlegt, wer er ist und sein will. Das andere ist sehr öffentlich, breitgestreut, kommunikativ und sozial. Wie setzt sich eine Gesellschaft damit neu zusammen? Und an dieser Stelle kommen dann die Fragen, welche Werte ich haben will, welche Freiheitsrechte, welche Schutzräume und so weiter. Da fängt die politische Diskussion eigentlich erst richtig an weh zu tun, aber auch relevant zu werden.

Durch diese neuen Technologien gibt es eine stärkere Individualisierung, aber auf der anderen Seite gibt es auch ein Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft. Was ist die neue Erzählung, die beides zusammenbringt?

Ja, Digitalisierung bedeutet dass man viel stärkere individuelle Möglichkeiten hat sein Leben selbst zu organisieren. Triviales Beispiel: niemand, den ich kenne, guckt mehr Fernsehen entlang des Fernsehprogramms. Das heißt, man entscheidet jetzt selbst, was man gucken möchte. Warum sollten irgendwelche Programmmacher von ARD oder ZDF in Mainz mir sagen, dass ich heute Abend bitte Harry Potter 3 gucke. Das ist ein unglaublicher Freiheitsgrad. Aber das bedeutet natürlich umgekehrt, dass wir vor 20-30 Jahren alle auch die gleichen Nachrichtensendungen zur gleichen Zeit geguckt haben. Damit gab es einen gemeinsamen Diskurs. Und so ist es halt nicht mehr, sondern jeder schaut seinen eigenen Kram und informiert sich selbst auf Facebook, Twitter, und so weiter.

Das teilt doch die Gesellschaft.

Genau! Das teilt die Gesellschaft. Es individualisiert sie. Und eine politische Ansprache, die auf dem „Programmmacher Mainz“ Niveau agiert, die erreicht diese schon längst gelebte Individualisierung nicht. Deswegen sag ich ja, die Politik hängt hinterher. Dramatischer als in sonst vielen anderen Themenfeldern. Wenn wir also an der Idee von Gesellschaft festhalten – und das müssen wir meines Erachtens, sonst sind wir keine progressive Partei mehr – dann müssen wir eine Sprache finden, eine Politikform, die diese schon längst gelebte Individualisierung nicht auflöst, sondern sie zulässt, aber zu einer neuen Gemeinsamkeit zusammenbringt. Das ist unglaublich abstrakt. Warum ist der Schulzzug nach dem Hype in Winter plötzlich entgleist, während Macron die Wahl gewonnen hat? Es gibt natürlich Unmengen an Unterschieden zwischen Deutschland und Frankreich, aber ein Punkt war bestimmt: Schulz hat in den entscheidenden Momenten verallgemeinert und zwar in der altbackenen Sprache „jetzt wieder mehr Gerechtigkeit für alle“. Gerechtigkeit für alle, das ist wie Harry Potter 3 im Fernsehen um 20.15 Uhr. Kaum jemand hat sich darin wiedergefunden außer vielleicht die SPD Granden selbst, keiner fühlte sich angesprochen. Und Macron hat es stattdessen geschafft ein Bild zu malen von einer vielfältigen Gesellschaft, in der jeder, egal wie er Leistung oder Freiheit definiert, seinen Platz findet – jedenfalls hat er das suggeriert.

Im Koalitionsvertrag habt ihr auch was zum Grundeinkommen einbringen können. Ist das eine Option die Digitalisierung und dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu begegnen?

Für mich ja. Bei mir ist das auch aus meinem Leben erwachsen, weil meine Frau und ich früh Kinder bekommen und zusammen Bücher geschrieben haben. Dass der Mensch faul ist, konnte ich in meinem Umfeld nie erkennen. Im Gegenteil konnte ich sehen, dass man verschiedene Lebensmodelle besser unter einem Hut kriegt, wenn es ein gewisses Maß an Grundsicherheit gibt. Und das passt auch ganz gut in diese digitale Welt rein.

Ich nehme jede Art von Gegenargumente ernst – zum Beispiel, dass es für Unternehmen ein willkommenes Instrument sein könnte, sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen – und  deswegen haben wir in Schleswig-Holstein im Grunde vereinbart, uns erstmal mit dem Grundeinkommen überhaupt auseinanderzusetzen. Also, Konzepte, Erfahrungen und so weiter aus anderen Ländern auszuwerten und wenn das erfolgreich zu sein scheint und wir uns als Partner in der Koalition darauf einigen können, dann auch ein Modell unter bestimmten Bedingungen mal durchzuspielen.

Arbeit löst sich auf. Der Begriff und das Verständnis von Arbeit verändern sich, aber unser Sozialsystem hängt am Arbeitsbegriff von Bismarck. Das kann nicht die letzte Antwort sein. Da sind verschiedene Grundeinkommensformen zeitgemäßer.