Die Bundestagswahl ist vorbei, aber eine neue Bundesregierung ist noch nicht in Sicht. CDU/CSU, FDP und Grüne sondieren seit einigen Wochen zu einer möglichen „Jamaika-Koalition“. Wir sprachen mit Reinhard Bütikofer MdEP, Vorsitzender der Europäischen Grünen und Mitglied der Grünen Verhandlungsgruppe, zu den Jamaika-Sondierungen, den Chancen und Risiken, die Rolle Europas und den Veränderungen der deutschen Parteienlandschaft.

Roderick Kefferpütz: Die Bundestagswahl liegt jetzt schon eine Weile zurück. Rückblickend, welche Themen haben diese Wahl geprägt und was für Strategien wurden verfolgt, vor allem von den Grünen?

Reinhard Bütikofer: Der Wahlkampf war geprägt von Auseinandersetzungen zwischen einem weiter-so-Lager von CDU/CSU und SPD und vier sehr verschiedenen Strategien der Veränderung von FDP, Linke, AfD und Grünen. Die status-quo-Parteien verloren enorm. Aber keine der Veränderungsstrategien konnte sich entscheidend durchsetzen. Das Resultat heißt: Staus-quo-Lager geschwächt, Aufbruchsrichtung nicht wirklich klar. Wir Grüne hatten im Wahlkampf eine klare Prioritätensetzung. Es war eine Art politisches Quadrat.

Eine Ecke war klar definiert vom tiefen Reformbedarf bei den Themen Energie, Klima, Landwirtschaft und Verkehr. Die zweite Ecke stand für Humanität und Ordnung im Umgang mit Migration und der Flüchtlingspolitik. Als dritte Ecke war ein Aufbruch für Europa für uns ein wichtiges Thema, die Ambition, dass Deutschland eine ehrgeizige partnerschaftliche Europapolitik verfolgt und nicht eine Politik, die versucht den anderen Schäubles Doktrinen aufzudrängen. Die vierte Ecke war die soziale Verantwortung. Da haben wir vor allem die Kinderarmut ins Zentrum gerückt, aber auch die Situation bei der Pflege und bei der Rente. Wir haben so im Wahlkampf an Profil gewonnen.

Die SPD hatte eine einzige Botschaft, die hieß „Mehr Gerechtigkeit“. Damit fiel sie auf ein historisch schlechtes Ergebnis.

Die Union hat sich den ganzen Wahlkampf lang gestritten, ob man bei der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik die AFD kopieren soll. Ansonsten war die Message: wir haben die Kanzlerin und die wollen wir behalten. Die CDU hatte weder wirtschaftspolitisch noch europapolitisch, sozialpolitisch oder umweltpolitisch große Gestaltungsabsichten erkennen lassen. Die CDU verlor riesig; die CSU noch mehr.

Die FDP behauptete sie sei eine neue FDP. Sie hatten mit ihren Parteivorsitzenden einen neuen Stil, so richtig locker-flockig. Und sie nutzten das Image einer außerparlamentarischen Partei, also dass sie nicht Teil des Establishments seien. Teilweise hat sich die Partei nach rechts bewegt und national-liberale Positionen eingenommen.

Letztlich gab es natürlich die AfD, die 13% gekriegt hat. Sie hat einen teilweise offen rassistischen Wahlkampf geführt und hat erschreckend erfolgreich versucht anti-demokratisch, autoritär zu mobilisieren.

Inwiefern hat denn Europa als Thema eine Rolle im Wahlkampf gespielt? Europa wurde ja in anderen Wahlkämpfen, wie zum Beispiel in Frankreich, stark thematisiert. War das auch in der Bundestagswahlkampagne der Fall?

Europa hätte dann eine zentrale Rolle spielen können, wenn Merkel oder Schulz das getrieben hätten. Das haben sie aber nicht. Wir haben versucht Europa zum Thema zu machen. Europa ist im Wahlkampf auch mehr vorgekommen als in früheren Wahlkämpfen. Ich habe durchaus Resonanz gefunden für europapolitische Diskussionen. Aber wenn man das mit dem französischen Präsidentschaftswahlkampf vergleicht, war Europa eher unterbelichtet.

Die einzig realistische Koalition die sich jetzt ergeben hat, ist eine Jamaika Koalition zwischen CDU/CSU, FDP und den Grünen. Wie stehen denn die Grünen so einer Koalition gegenüber?

Unsere Position ist einfach. Wir sehen die Verantwortung zu schauen, ob das klappen kann. Aber klappen kann es für uns nur, wenn es uns gelingt in den Verhandlungen wesentliche Veränderungen zu realisieren, die die deutsche Politik auf wichtigen Feldern tatsächlich nach vorne bringen. Da bin ich dann wieder bei diesem Quadrat, das ich beschrieben habe. Wir kämpfen mit großer Entschlossenheit für einen Kohleausstieg, wir kämpfen für eine Wende in der Verkehrspolitik, weg vom Verbrennungsmotor, und wir kämpfen für eine andere Landwirtschaftspolitik.

Aber wir wollen nicht nur eine Art Öko-App sein. So haben wir in den Sondierungsgesprächen klar gemacht, dass wir nicht zur Verfügung stehen den Mindestlohn auszuhöhlen oder Arbeitsgesetze zu Lasten der Arbeitnehmer zu verändern. Wir wollen die großen sozialen Probleme angehen, von der Kinderarmut und Pflege bis zum völlig überteuerten Wohnraum. Interessanterweise finden wir dazu zum Teil mehr Übereinstimmung mit der CSU, als mit der FDP.

Wir wollen auch, dass Deutschland eine ambitionierte, vorwärtstreibende Europapolitik macht. Wir wollen eine Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion und das europäische Budget so gestalten, dass es Europa erlaubt die zentralen Herausforderungen anzugehen. Dazu gehören auch eine Vervollständigung der Bankenunion und ein Instrument, um auf asymmetrische ökonomische Schocks angemessen zu reagieren.

Und bei der Flüchtlingspolitik ist uns klar: Wir können die drei Partner, die da alle rechts von uns stehen, nicht auf unsere Seite rüber ziehen. Voll durchsetzen können wir uns da nicht, aber wir werden da auch nicht einknicken. Wir werden keiner Lösung zustimmen, die unsere Prinzipien der Humanität untergräbt. Wenn unser Grundgesetz verspricht die Familie zu schützen, dann ist damit nicht nur die deutsche Familie gemeint, sondern auch eine Familie von Flüchtlingen. Deswegen müssen auch Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz ihre engen Familienangehörigen nachholen können.

Das sind alles sehr wichtige Punkte, aber wie viel Fortschritt hat es denn in diesen Bereichen bisher gegeben?

Man hat bis jetzt die Abstände und Abgründe vermessen. Jetzt müssen wir sehen, wo sich tragfähige Brücken finden. Es gibt Themen, bei denen sind die Abstände nicht so groß. Wissenschaft, Forschung und Digitalisierung zum Beispiel. Selbst an der Außenpolitik, würde ich sagen, muss das nicht scheitern. Aber insgesamt hat es bis jetzt viel zu wenig Bewegung gegeben. Wenn man mit dem Zwischenergebnis, was wir heute haben, vor die Grüne Partei treten müsste, könnte die einzige Empfehlung sein, das nicht zu machen. Natürlich werden wir Kompromisse machen müssen. Das wissen wir durchaus noch aus rot-grüner Zeit.

Grüne Kompromisse scheinen ja schon da zu sein. Beim Kohleausstieg und bei der Forderung ab 2030 keine Autos mit fossilen Verbrennungsmotor mehr neu zuzulassen.

 Wir sind nicht bereit die Klimaschutzziele, auf die sich drei Bundesregierungen, an denen wir nicht beteiligt waren, verpflichtet haben aufzugeben und dahinter zurück zu fallen. Wir wollen, dass die Ziele für 2020, 2030 und 2050 eingehalten werden. Da werden wir nicht von abrücken. Wir haben nie gesagt, wir kriegen den Kohleausstieg auf einen Schlag hin. Das ist genauso wenig möglich, wie der Atomausstieg nicht auf einen Schlag stattgefunden hat. Natürlich wird das Schritt für Schritt gehen müssen. Aber die Schritte müssen tatsächlich gegangen werden, damit wir die Klimaziele erreichen können.

Bezüglich des 2030-Ziels ist klar, dass wir eine Regelung brauchen, damit die deutsche Automobilindustrie Innovationspfade konsequent einschlägt. Es wird einen Umstieg auf andere Technologien geben. Man muss dazu nur sehen, wie sich die verschiedenen Länder von UK bis China positioniert haben. Die Automobilindustrie wird an dieser Umstellung nicht vorbeikommen. Die Frage ist, ob sie schnell genug sein wird, um von dieser Umstellung zu profitieren oder ob diese Transformation einhergeht mit dem Niedergang der deutschen Industrie. Die Transformation wird nicht aufzuhalten sein. Also muss die Politik die Transformation angehen, damit Deutschland nicht industriepolitisch an den Krückstock kommt.

Was wäre denn ein Narrativ für eine mögliche Jamaika Koalition? Was ist das verbindende Element?

 Das verbindende Element, das wäre der Stein der Weisen. Ich glaube, wir werden eine streitige Koalition haben. Eine Koalition in der die unterschiedlichen Partner unterschiedliche Perspektiven behalten. Alle Partner müssen dabei anerkennen, dass die Herausforderungen so groß sind, dass man sich was neues einfallen lassen muss. Die alten Regierungsbildungen nach Lagerformationen sind im Moment in Deutschland auf Bundesebene nicht mehrheitsfähig. Das hat die Bundestagswahl gezeigt. Jetzt müssen die Partner, die eigentlich gar nicht zueinander passen, doch versuchen gemeinsam Schritte nach vorne zu gehen. Es kann gelingen einzelne Reformprojekte, Projekte der Veränderung, zu identifizieren und anzupacken, auch wenn man ansonsten ganz unterschiedliche Perspektiven behält. Das heißt, es wird eine Koalition neuen Typs, wenn sie denn zustande kommt.

Also könnte man sagen, dass die Veränderung der parteipolitischen Landschaft, die ja in vielen anderen Ländern bereits stattgefunden hat, jetzt auch in Deutschland angekommen ist.

 Klar ist das eine Veränderung, wenn Du eine anti-republikanische, anti-demokratische Partei mit 13% jetzt im Bundestag sitzen hast. Und das hat auch Auswirkungen auf die Widersprüche zwischen den demokratischen Parteien. Solange es im Parlament keine Partei gibt, welche die Demokratie grundsätzlich in Frage stellt und autoritäre Politik propagiert, kannst Du Dich lustvoll und manchmal exzessiv den Widersprüchen zwischen den demokratischen Parteien widmen. In einer Situation aber, wo es solch eine Kraft gibt, die an einer Systemtransformation ins Autoritäre arbeitet, wirst Du diese Widersprüche zwischen den demokratischen Parteien nicht absolut setzen können. Sonst hilfst Du mit beim Zerstören.

Inwiefern wirkt sich denn die gegenwärtige politische Situation mit den Sondierungen auf Europa aus? Macron kommt jede Woche mit einem neuen politischen Vorschlag und Deutschland kann nicht drauf antworten.

Macron hatte seine Wahl halt ein halbes Jahr früher. Darum geht es gar nicht. Wir werden darauf antworten und zwar so hoffe ich,  mit unseren eigenen ehrgeizigen Vorschlägen. Wir werden nicht alles akzeptieren und kopieren, was er will. Wir werden weder sein Eurozonen-Budget, noch sein Eurozonen Parlament machen, ganz gewiss nicht. Aber er hat Recht, wenn es darum geht, dass man eine Fazilität braucht, um große asymmetrische Schocks abzufedern. Da gibt es eine Gemeinsamkeit. Wir verstehen auf jeden Fall die große Chance auf einen Aufbruch in Europa und wir wollen den als Grüne.

Wie siehst Du denn die Chancen einer Jamaika Koalition? FDP-Vorsitzender Christian Lindner redet ja regelmäßig von Neuwahlen zu reden.

 Wer so oft betont, dass er keine Angst hat, hat vielleicht doch Angst. Wenn nicht vor Neuwahlen, dann vielleicht vor einer Koalition. Die FDP kann jedoch nicht einfach aus der Situation rauskommen. Auch sie muss sich der Verantwortung stellen.

Wie verläuft denn der weitere Prozess?

Wir sind jetzt in der letzten Phase der Sondierungsgespräche. Ab dem 16. November werden wir dann ein Sondierungsergebnis haben, das wir dem Parteitag der Grünen am 25. November vorstellen werden. Wenn der Parteitag beschließt mit Koalitionsverhandlungen anzufangen, werden wir das unmittelbar tun und sie bis Mitte Dezember abschließen. Danach wird eine Grüne Mitgliederbefragung, also ein internes Referendum, entscheiden, ob ja oder nein.

Letzte und sehr spekulative Frage: Viele sind ja gespannt welche Ministerien sich dann für die Grünen ergeben. Wie siehst Du das?

Ich denke wir werden drei Ministerien haben. Ich gehe fest davon aus, dass wir auf jeden Fall Umwelt und Energie haben werden.