Der gefährdete Informationsraum muss durch globale politische Maßnahmen geschützt werden. Ein Interview mit Christophe Deloire, dem Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, über die Vision der “Internationalen Erklärung zu Informationen und Demokratie“.

„Reporter ohne Grenzen“ hat eine Kommission aus Nobelpreisträgern, Journalist/innen und Mitgliedern der Zivilgesellschaft ins Leben gerufen, die den Schutz des Grundrechts auf unabhängige Information und demokratische Kommunikation fordert. Ihre internationale „Erklärung über Information und Demokratie“ wurde beim Pariser Friedensforum am 11. November 2018 vorgestellt. Hier verpflichteten sich zwölf Länder (darunter Kanada, Frankreich und Dänemark), die in der Erklärung dargelegten Grundsätze zu unterstützen. Christophe Deloire ist zusammen mit Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi Vorsitzender dieser Kommission. Das Interview führte Beatrice White.

Beatrice White: Die “Internationale Erklärung zu Informationen und Demokratie” sagt, dass der globale Kommunikations- und Informationsraum ein Gemeinwohl der Menschheit sei und als solches auch Schutz erfordere. Bitte erklären Sie, was das bedeutet.

Christophe Deloire: Der globale Kommunikations- und Informationsraum bezieht sich auf eine Großzahl von Mitteln, Normen und Kommunikationsstrukturen, die zusammen den Informationsaustausch zwischen Menschen ermöglichen. Es entspricht gleichsam dem Erdboden für eine darauf laufende Person. Es ist das Fundament, auf dem der Austausch von Ideen und Informationen beruht, und dieses Fundament besteht sowohl aus technischen Mitteln wie auch aus rechtlichen Normen.

Dies ist der Raum, den wir bisher als „öffentlichen Raum” bezeichnet habeen. Heute können wir aber deutlich sehen, wie die Grenzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum beseitigt werden. Dies ist auf neue Technologien zurückzuführen, beispielsweise auf Online-Plattformen, aber auch auf alle Anwendungen, die es uns ermöglichen, über private Kanäle wie elektronische Messenger-Dienste zu kommunizieren, allerdings mit der Fähigkeit zur Massenkommunikation. Können wir wirklich behaupten, dass es sich noch um private Korrespondenz handelt, wenn eine gezielte Nachricht gleichzeitig fünf Millionen Menschen erreicht?

Dieser Raum ist das Medium für unsere gemeinsame Diskussion – also für die Diskussionen zwischen Menschen, sogar über Grenzen hinweg –, und das ist der Ort, an dem Rede- und Meinungsfreiheit ausgeübt wird. Das möchte die Kommission mit diesem Grundsatz vermitteln. Da diese Freiheit ein Grundrecht ist, muss es für diesen Raum Garantien geben. Sie kann nicht gekapert werden durch Staaten, durch Plattformen oder Einzelpersonen. Dies zu sichern liegt in der Verantwortung von uns allen. Informations- und Meinungsfreiheit müssen garantieret werden.

Warum ist dieser Raum für eine funktionierende Demokratie so grundlegend? Und erleben wir tatsächlich einen Bruch mit der Vergangenheit?

In der Geschichte der Demokratien gab es schon immer Regeln für Regulierung oder Selbstregulierung, damit dieser öffentliche Raum beispielsweise politisch neutral bleibt. Akteur/innen in den Medien mögen politische Neigungen haben – was ihr gutes Recht ist –, aber die Regeln, die diesen Raum gestalten, können nicht ein politisches Lager gegenüber einem anderen bevorzugen. Das Prinzip der Demokratie ist es, dass alle Ideen und Informationen nebeneinander existieren können, ohne dass es eine strukturelle Richtung gibt, die eine bestimmte politische Vision bevorzugt behandeln würde. Das ist die Bedingung des politischen Liberalismus – es ist praktisch dessen Definition.

Heutzutage werden die Gesetze für diesen Raum größtenteils von Plattformen geschrieben, die nicht genügend kontrolliert werden und die überhaupt nicht transparent sind. Sie bieten keinerlei Mindestgarantien. Die Geschichte der Demokratien ist eng mit der Geschichte der Schaffung von Verfahren verbunden, die verlässliche Informationen garantieren und gleichzeitig die Meinungsfreiheit respektieren. Das wurde erreicht durch Regulierungen für audiovisuelle und gedruckte Medien, die es ermöglichen, Freiheiten zu schützen. Und dies wird heutzutage hinweggefegt.

In der Vergangenheit beruhten diese demokratischen Garantien auf fünf Unterscheidungen: Erstens der Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum, die gerade zusammenbricht. Zweitens zwischen verschiedenen nationalen öffentlichen Räumen und ihren internen rechtlichen Gleichgewichten, die in dem Maß an Bedeutung verlieren, wie die Gesetze unanwendbar werden. Drittens die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Medien oder Informationsquellen (Fernsehen, Radio, und Printmedien). Viertens, zwischen verschiedenen Arten von Inhalten (Journalismus, Propaganda, bezahlten Inhalten, Werbung), die heute leider alle in direktem Wettbewerb stehen. Und die letzte Unterscheidung, die wir verschwinden sehen, ist die zwischen Menschen und Maschinen.

Sie sagen, dass „offene Demokratien am meisten unter diesem Aufruhr leiden, während despotische Regime diesen ausnutzen.” Können Sie das erläutern?

Diese Transformationen sind aus politischer Sicht nicht neutral. Sie bevorzugen despotische Regime gegenüber demokratischen Modellen. Despotische Regime können Technologien einsetzen, um ihre politischen Systeme durch Schließung, Kontrolle und Überwachung abzusichern. Und sie können ihre kontrollierten Inhalte exportieren, während sie sich weigern, unter freieren Bedingungen erzeugte Inhalte zu importieren. Dies schafft einen unfairen Wettbewerb, von dem despotische Regime profitieren.

Eine andere, sehr schädliche Konsequenz dieser Entwicklungen ist, dass Inhalte, die unehrlich und emotionsgeladen sind, im Vorteil sind gegenüber Inhalten, die mit rationaleren Methoden geschaffen wurden. Dies kann fatale Folgen für Demokratien haben. Deshalb meinen wir, dass wir heute, 70 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eine Initiative brauchen, die im Kontext von Globalisierung und Digitalisierung des öffentlichen Raums die nötigen Garantien schaffen kann.

Auf dem Pariser Friedensforum verpflichteten sich zwölf Länder auf die in der Erklärung genannten Grundsätze. Dies wurde von Reporter ohne Grenzen als „historischer Schritt” bezeichnet, um einen „politischen Prozess einzuleiten, der darauf abzielt, demokratische Garantien für Nachrichten, Informationen und Meinungsfreiheit zu bieten.“ Wie werden diese Prinzipien nun in konkrete Maßnahmen umgesetzt?

Wir hatten gefordert, einen politischen Prozess in Gang zu setzen, und dies geschah schließlich am 11. November, als sich zwölf Staats- und Regierungschefs verpflichteten, die von uns entworfene Erklärung zu unterstützen. Darüber sind wir sehr froh, diese Verpflichtung hat politisches Gewicht, das war ein notwendiger Ausgangspunkt dieser Initiative. Wir arbeiten daran, dass sich weitere Staaten verpflichten, aber das ist nicht das vorrangige Ziel. Unser Hauptziel besteht darin, loszulegen mit der praktischen Arbeit daran, konkrete Garantien zu sichern.

Wir arbeiten derzeit an der Roadmap, die den Prozess steuern wird. Innerhalb eines Jahres wollen wir einen „Informations- und Demokratiepakt” schaffen, der aus mehreren Akteur/innen bestehen soll – Staaten, Plattformen, sowie anderen Akteur/innen insbesondere auch aus der Zivilgesellschaft -, um die notwendigen Garantien zu vereinbaren und dann auch zusammen an deren Umsetzung zu arbeiten. Die verabschiedete Erklärung ist kein Selbstzweck. Sie ist ein wichtiges Zwischenziel, aber eben nur ein Ausgangspunkt, wir können uns damit noch nicht zufriedengeben. Manche meinen, dies seien nur Worte, eben eine weitere Erklärung. Aber sie übersehen, dass sich diese Staaten verpflichtet haben, auf dieser Grundlage und in Übereinstimmung mit der von unserer Kommission dargelegten Vision weiterzuarbeiten.

Wie kann dieser globale öffentliche Raum umgewandelt werden, ohne auch Schwergewichte wie die USA, Russland oder China einzubeziehen?

Für uns war entscheidend, eine starke Position zu setzen und die Unterstützung von Staaten zu gewinnen, die die Erklärung wirklich verteidigen können. Das haben wir erreicht. Wir haben die Staats- und Regierungschefs der demokratischen Staaten ins Visier genommen, die hinsichtlich der Pressefreiheit gut eingestuft werden und deren Engagement für die Demokratie klar ist. Es hätte keinen Sinn gemacht, China, Russland oder die Vereinigten Staaten unter Trump für so eine Initiative gewinnen zu wollen. Und da wir sie nicht gefragt haben, haben sie sich natürlich auch nicht in den Prozess eingebracht. Wenn sie es getan hätten, wäre dies entweder das Zeichen einer Wende auf ihrer Seite gewesen oder einfach nur Heuchelei. Die Idee ist, dass die unterzeichnenden Staaten über ein ausreichendes Gewicht verfügen, um auf demokratische Garantien für diesen gemeinsamen Raum hinzuwirken – Garantien, die implementiert werden und danach von Plattformen respektiert werden müssen.

Wir müssen nun originäre Systeme erfinden, die diese Implementierung ermöglichen. Die Erklärung schlägt als Ziel vor, eine Art IPCC[1] für Informationen einzurichten, ähnlich wie bei den Klimaverhandlungen. Aus unserer Sicht ist dies ein Beispiel für ein effektives System, das ermöglicht, Prinzipien umzusetzen, während es die heutigen Machtverhältnisse in Rechnung stellt. Denn hinsichtlich Informationen und Journalismus gibt es ebenso wie beim Klima menschliche Faktoren und Systemfaktoren, und wir können die Dinge verändern, sofern wir die Bereitschaft dazu schaffen können.

Ein IPCC für Informationen ist eine interessante Idee. Wie könnte ein solches Gremium oder eine Gruppe von ExpertInnen die Regulierung und der steigenden Verantwortung in einem so komplexen Informationsraum angehen, der nun auch auf globaler Ebene existiert? Wir haben ja erlebt, dass der IPCC durch seinen zwischenstaatlichen Charakter bisweilen auch ausgebremst wird.

Der IPCC hat einen zwischenstaatlichen Status, er ist aber auch eine unabhängige Expert/innengruppe. Wenn wir demokratische Garantien für den Informations- und Kommunikationsraum schaffen wollen, müssen wir zu einer internationalen oder supranationalen Lösung greifen. Ausgeschlossen sein müssen solche Akteur/innen, die versuchen, diesen Raum zu kontrollieren oder mit Propaganda zu füttern.

Eine Gruppe demokratischer Staaten (gern mit wachsender Mitgliederzahl) kann gemeinsam eine Initiative starten, um die in der Erklärung niedergelegten Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Dafür müssen Kommunikationsplattformen transparent arbeiten, und es muss die Möglichkeit zur Inspektion vorhanden sein. Es ist auch wichtig, über die Mittel zu verfügen, um prüfen zu können, ob die Grundsätze und die Organisation dieses Raums für alle übereinstimmen, die an dessen Struktur mitwirken.

Anstelle von Inhalten bieten uns Plattformen vor allem eine bestimmte Organisation des Informations- und Kommunikationsraums mit einer Struktur, mit Normen, Mitteln und einer Entscheidungsarchitektur. Ihre Rechte und Pflichten müssen sich daher zwangsläufig von denen von Redakteur/innen, Blogger/innen oder Internetnutzer/innen unterscheiden.

Parallel zu diesem Prozess gibt es auch die Journalism Trust Initiative (JTI), eine Selbstregulierungsinitiative für Medien zur Bekämpfung von Online-Desinformation, die Reporter ohne Grenzen zusammen mit Partner/innen wie der Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP), der Europäischen Rundfunkunion (EBU) und dem Global Editors Network (GEN) ins Leben gerufen hat. Welche Rolle sollte die Selbstregulierung der Medienbranche spielen? Inwieweit kann sie dazu beitragen, das Problem des mangelnden öffentlichen Vertrauens in die Medien zu lösen?

Der Selbstregulierungsmechanismus, den wir gerne einführen möchten, versucht nicht bestimmte Interessen zu verteidigen, sondern versucht konkrete Mechanismen zu schaffen, durch die Informationen bevorzugt werden, die mit gewissen Zuverlässigkeitsgarantien verbunden sind. Diese Garantien bauen auf redaktionelle Unabhängigkeit, auf ethische journalistische Praktiken und Methoden, sowie auf die Einhaltung ethischer Standards und Transparenz.

Wie machen wir das? Zunächst einmal, indem ein Bezugsrahmen geschaffen wird, der solchen qualitätsgesicherten Nachrichten einen Vorteil verschaffen soll durch einen Normalisierungs- und Standardisierungsprozess. Dies ermöglicht unabhängige Formen der Zertifizierung oder des sogenannten „White-Listings“, ohne auf irgendeine Art von Zensur zurückgreifen zu müssen. Derzeit führen wir Gespräche mit Plattformen über die möglichen Vorteile, die beispielsweise durch Indexierung – also auch des Sichtbarmachens solcher Verfahren – erlangt werden können, und wir reden mit Werbetreibenden und Aufsichtsbehörden, um herauszufinden, wie sie helfen könnten. Es gibt eine ganze Reihe von AkteurInnen, die dazu beitragen können, Wettbewerbsvorteile für zuverlässige und qualitativ hochwertige Informationen zu schaffen.

Wir arbeiten daran, einen dreiseitigen Mechanismus des Vertrauens zu schaffen, so dass die Entscheidungen nicht einseitig von Staaten, Plattformen oder anderer/n Akteur/innen gefällt werden, sondern durch Kooperation entstehen. Es sollte ein tugendhaftes System sein. Um das zusammenzufassen: Das Versprechen der Erklärung für Information und Demokratie ist in wirtschaftlichen Worten eine Art „Makro“-Initiative, während „Journalism Trust” eher eine Initiative auf der „Mikroebene” ist. Beide Ansätze ergänzen sich. Sie ermöglichen, einen Rahmen festzulegen und dann auch zu zeigen, wie einige dieser Garantien konkret geschützt werden können im öffentlichen Raum der Information.

Diese beiden Ansätze zielen also darauf ab, sich gegenseitig zu verstärken – um einen Rahmen zu schaffen und um Anreize dafür zu schaffen, dass Medienschaffende Praktiken einführen, die ihre Zuverlässigkeit stärken und diejenigen belohnen, die mitmachen. Würden Sie sagen, dass Vertrauen heutzutage eine Art Markt- oder Handelswert gewonnen hat – in dem Sinn, dass es zu Vorteilen wie Zugang zu öffentlichen Geldern, größerer Sichtbarkeit und Reichweite, oder sogar noch mehr Umsatz führen kann, wenn zuverlässige, vertrauenswürdige Informationen erzeugt wird?

Die Frage des Vertrauens ist grundlegend, aber lassen Sie mich klar sagen: In Demokratien sollte im Informationsraum nicht das Gesetz des Dschungels herrschen. Bei Demokratie geht es um Rechte und Schutzmechanismen. Wir müssen in der Lage sein, diese für die heutige globale Ebene anzupassen, und konkrete Mittel zur Anwendung zu finden.

[1] Zwischenstaatliches Expert/innengremium der Vereinten Nationen für Klimaänderungen

Published in cooperation with HeinrichBöllStiftung