Die ungarische Opposition hat es endlich geschafft, bei den bevorstehenden Kommunalwahlen in Ungarn im Oktober 2019 gegen die Regierungspartei geschlossen aufzutreten. Da kompetitive autoritäre Systeme selten stabil sind, könnten die Folgen der Wahl sogar zeigen, ob das Land noch demokratisiert werden kann – oder ob die Regierung Ungarn in einen vollen autoritären Staat verwandeln wird.

In letzter Zeit sind Überlegungen über die hybriden Systeme zu einem wichtigen Element der internationalen und der ungarischen Diskurse geworden. In unserem Fall handelt es sich vereinfacht um Regime, bei denen hinsichtlich der Machtausübung gleichzeitig demokratische und autokratische Elemente zu beobachten sind. Auch in der öffentlichen Debatte in Ungarn wird der Gedanke am ehesten von Steven Levitsky und Lucan Way in ihrem epochalen Werk Competitive Authoritarianism: Hybrid Regimes After the Cold War aufgegriffen, in dem die Verfasser den Begriff „kompetitives autoritäres System” einführen. 

Man muss wissen, dass in Ungarn kein Konsens darüber besteht, wie das Orbán-Regime beschrieben werden soll. Die Vertreter des Konzepts des hybriden Regimes untersuchen das (ungarische) politische System aus Sicht der liberalen Demokratie. Da sie sich die Demokratie ausschließlich als „liberal“ vorstellen, stimme ich dem international anerkannten Vertreter der ungarischen Politikwissenschaft András Körösényi dahingehend zu, dass dieses Konzept uns vorwiegend dabei hilft zu erfahren, wie das Orbán-Regime nicht funktioniert. Weniger Aufschluss gibt es hingegen darüber, wie das Regime funktioniert. Dies mindert aber selbstverständlich nicht die Relevanz der Beschreibung des hybriden Regimes. Es bedeutet lediglich, wie auch der ungarische Politikwissenschaftler Gábor Zoltán Szűcs darauf hinweist, dass die Regimediskussion nicht nur ein deskriptives Problem darstellt – denn sie ist auch eine Frage der Wertewahl.

In der Grauzone

Für eine politische Persönlichkeit ist es unerlässlich, ein Regime zu verstehen und zu benennen. Ohne eine Beschreibung oder Definition eines Regimes wäre es für diese Persönlichkeit unmöglich, ihren politischen Gegner zu identifizieren, ihr Normensystem zu etablieren oder ihr politisches Programm zu skizzieren.

Heute besteht ein breiterer Konsens darüber, dass wir in der Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie, von einem eigenständigen Regimetypus sprechen müssen. Im Allgemeinen weisen Grauzonenländer eine Reihe von demokratischen Merkmalen auf (z. B. rechtliche Möglichkeiten für die Organisation von Parteien und der Zivilgesellschaft, eine demokratische Verfassung, regelmäßig stattfindende Wahlen), die Funktionsweise solcher Systeme ist jedoch voll mit Defiziten. Dies manifestiert sich, unter anderen, im Mangel an realen Möglichkeiten für staatsbürgerliche Interessenvertretung, in willkürlicher Machtausübung, mangelnder Transparenz bei politischen Entscheidungen, Machtkonzentration, geringer politischer Aktivität und Beteiligung, Verflechtung von Regierung und unabhängigen Institutionen, usw. Anhand dieses Kontexts, untersuchen wir im Folgenden Ungarn als ein hybrides Regime.

Angesichts der hybriden Regime gelten ihre Stabilität bzw. ihre mögliche Verschiebung in Richtung Demokratisierung oder eine autoritäre Wende als Hauptfragen. Seit den 2000er Jahren plädiert eine zunehmende Gruppe von Sozialwissenschaftlern dafür, dass die hybriden Regime die lang ersehnte sichere Macht nicht trotz ihrer quasi-demokratischen Institutionen, sondern zum Teil gerade „mit Hilfe“ dieser Institutionen ergreifen. Wir reden hier überwiegend von sorgfältig aufgebauten und aufrecht erhaltenen Regimen, die durchaus in der Lage sind, auch längerfristig Stabilität aufzuweisen.

Gleichzeitig stellen die Wahlen die Führung von hybriden Regimen wie Nikolai Petrov, Maria Lipman und Henry E. Hale 2013 in ihrer in Post-Soviet Affairs erschienenen Studie schreiben, immer vor ein Dilemma. Denn der Ausgang der Wahlen kann ihre Macht gefährden. Durch einen deutlichen Wahlsieg kann sich die Regierung aber auch eine zusätzliche Legitimation verschaffen. Petrov und seine Mitverfasser deuten auch darauf hin, dass eine übertriebene Zentralisierung trotz der zweifellosen Stärke eines Regimes auf der Führungsebene die Gestaltung der öffentlichen Politik erschweren kann, was eine falsche Identifizierung von Problemen zur Folge haben und folglich zur gesellschaftlichen Unzufriedenheit und zunehmenden Instabilität führen kann. Die Krise könnte dadurch verschärft werden, dass die hybriden Regime naturgemäß keine Foren für Interessenvereinbarung und institutionalisierte Verfahren besitzen, durch die die Probleme unter Einbeziehung der Betroffenen auf eine transparente Weise geklärt werden könnten. Diese aus der ungarischen Praxis bekannte Vorgehensweise kann sogar Straßenbewegungen herbeiführen, was aber wiederum nicht vorauskalkulierbar ist.

Keine echte Stabilität

Auch den Forschungen von Levitsky und Way zufolge weisen die kompetitiven autoritären Systeme eigentlich keine echte Stabilität auf. Die Mehrheit der von ihnen untersuchten Länder hat sich bis heute entweder demokratisiert oder sich zu einem rein totalitären System entwickelt. Lediglich wenige hybride Regime haben ihr eigenartiges Funktionsmodell bewahrt. 

Diesen Gedanken hat Christopher Carothers in seiner im Herbst 2018 in Journal of Democracy-erschienenen Studie fortgeführt und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Stabilität der kompetitiven autoritären Systeme mittel- und langfristig oft erodiert, weil sie im politischen Sinne zu offen sind und der Konkurrenz mehr Raum geben als autoritäre Systeme. Wir haben bereits erwähnt, dass ein Schlüssel zum Fortbestehen solcher hybriden Regime nicht die Abschaffung der demokratischen Institutionssysteme ist, sondern, dass eine teilweise Abschaffung dieser Institutionen quasi-demokratische Verhältnisse simuliert. Die Beteiligung der Opposition an den Wahlen verschafft dem Regime Legitimation, und eine anschließende mehrfache Bestätigung im Amt festigt – wie in Ungarn – das Gefühl der Alternativlosigkeit. In Ungarn haben die amtierende Regierungspartei (Fidesz) und ihre Bündnispartei (KNDP) nach dem Jahr 2010 zwei weitere Wahlsiege eingefahren (siehe hier den Bericht 2018 von Freedom House über die Wahlumstände).

Die vier Sturzszenarien

Es gibt also kein gängiges „Modell”, wie hybride Regime stürzen oder wie sie gestürzt werden. Aufgrund von Erfahrungen kann man aber Carothers zufolge mit einer Verschiebung in die eine oder andere Richtung rechnen, wobei es keine teleologische Formel für eine – sagen wir mal liberale – Demokratie gibt. Carothers entwirft vier Szenarien, deren Eintritt eine Chance auf den Sturz der hybriden Regime geben könnte.

  1. In einem kompetitiven autoritärem System hat die Opposition im juristischen Sinne die Möglichkeit, bei den Wahlen anzutreten, sich dafür die Unterstützung der Gesellschaft zu sichern und mit diesem Hintergrund als Herausforderer der Macht aufzutreten. Auf dem oft beschriebenem Fußballfeld bläst der Opposition weiterhin ein starker Gegenwind entgegen, aber zumindest eine prinzipielle Möglichkeit ist gegeben. Die Opposition kann sich auch für die Möglichkeit entscheiden, erst kleine Schritte zu machen und zuerst die Kommunalwahlen ins Visier zu nehmen. Dies kann der Opposition nicht nur die lang ersehnten Siege bescheren, sie kann auch ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen. Dieser Methode bediente sich die mexikanische Opposition Ende der 1990er Jahre. Die relative Offenheit der hybriden Regime kann in gewissen Situationen einen raschen Umschwung in der öffentlichen Stimmung ermöglichen, so dass die Amtsinhaber die Stimmung nicht mehr rechtzeitig umschwenken können. Ähnliches war 2018 in Armenien zu beobachten.
  2. Die Aufrechterhalter der von uns behandelten Systemen können sich auch dafür entscheiden, die Wahlen zu manipulieren. Von dieser Möglichkeit wird auch öfters Gebrauch gemacht. Dies kann aber eine Verbitterung in der Gesellschaft auslösen, die sich sogar zu einer Massenbewegung entwickeln kann, die versuchen kann das Regime zu stürzen. Ein derartiges Vergehen an den allgemeinen Erwartungen kann als Katalysator groß angelegter Demonstrationen fungieren, in deren Hintergrund auch andere langjährige Wunden aufreißen können. Das „Herumfummeln“ an den Wahlen kann bei der Bevölkerung oft größere Empörung hervorrufen, als wenn es überhaupt keine Wahlen gäbe. Dies spielte sich 2004 in der Ukraine ab: da konnte man den Ausbruch der sogenannten Orangefarbenen Revolution in Kiew im Fernsehen live verfolgen.
  3. Die Wahlergebnisse können auch zur Folge haben, dass die amtierenden Machthaber allein durch den relativen Positionsgewinn der Opposition erbost werden, obwohl diese keinen Wahlsieg einfahren kann. In diesem Fall können die Führungsfiguren des Regimes die Entscheidung treffen, ein rein autoritäres System einzuführen, um weiteren Positionsverlusten zuvorzukommen. In den 1970er Jahren entschied sich die Militärführung, die früher durch einen Militärputsch in Südkorea an die Macht gekommen war, für diese Möglichkeit.
  4. Da sich diese Systeme als Demokratie ausgeben, berauben sie sich selbst der Möglichkeit eine eigene ideologische Legitimation als Rechtfertigung ihres Systems aufzubauen. Dies bedeutet, dass es diesen Systemen an einer klaren ideologischen Basis fehlt. Solange es möglich ist, aus der Leistung (z.B. sich verbessernde Wirtschaftsdaten, gut abschneidende Bürokratie) Legitimation zu gewinnen, stellt dies keine Bedrohung für das System dar. Im Fall von Regierungsfehlern und Krisen bekommt die Opposition aber die Möglichkeit, das System auf ideologischer Basis anzufechten. 

Ungebrochene Legitimation

Bei den oben von Christopher Carothers ausgeführten Punkten könnten dem Leser die ungarischen Verhältnisse oder ihr möglicher Ausgang einfallen. Die ideologische Legitimation der Regierungspartei (Fidesz) ist in ihrem eigenen Lager noch ungebrochen. Die von der Partei verkündete Legitimation des souveränen „christlich-demokratischen“ Ungarns kann in dem Lager von Fidesz-KDNP als stabil betrachtet werden.

Im Falle Ungarns wird die bevorstehende Wahl am 13. Oktober indirekt die Systemkompatibilität stärken. Laut einer Studie, die von den Forschern des Zentrums für Sozialwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften erstellt und zu Beginn des Sommers veröffentlicht wurde, denken 43 Prozent der Befragten, dass im Jahre 2010 eine neue Ära angefangen hat. Das steht im Gegensatz zu der Zeit nach dem Wendejahr 1989, die nur von 22 Prozent der Befragten als eine einheitliche Ära betrachtet wird, da es zu dieser Zeit mehrere Konstellationen von Regierungen gab. Demnach ist es schwierig zu glauben, dass die Befragten die neue Ära nicht als ein Orbán-Regime oder Orbán-System betrachten.

Daneben weisen Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Existenz einer ideologischen Antithese – also des liberalen Denkens, das für die linke und liberale Szene charakteristisch ist – das System weiter legitimieren kann. Eine Ende 2018 veröffentlichte Studie von Gábor Tóka, einem der besten Kennern des ungarischen Wählerverhaltens, behauptet, dass die Rolle der wirtschaftliche Lage genau so wichtig ist in der zunehmenden Unterstützung von Fidesz, wie die Migrationsthematik. Da die EU das Land weiterhin finanziell unterstützt, können wir vermuten, dass es keine Verschlechterungen in den Wirtschaftsstatistiken geben wird.

Die Rolle der Europäischen Union erwähnten auch András Bozóki und Dániel Hegedűs in ihrer in Democratization erschienenen Studie. Sie beschrieben das nach 2010 in Ungarn entstandene Orbán-Regime als eigenen Typen unter den hybriden Regimes. Letztgenanntes zeichnet sich dadurch aus, dass es ein innerhalb der Europäischen Union bestehendes kompetitives autoritäres System darstellt. Die Europäische Union gilt daher gleichzeitig als Schranke und Aufrechterhalter (durch Legitimation und finanzieller Unterstützung) für das ungarische System, das deshalb – wie ausgeführt – ein so genanntes „von außen beschränktes” hybrides System ist.

Nicht die erste Möglichkeit

In Ungarn hatte die Opposition auch schon früher die Möglichkeit, bei den Zwischenwahlen mehr oder weniger große Wahlsiege in zahlreichen Wahlbezirken einzufahren, aber diese konnten dem Regime letztlich keinen schweren Schlag versetzen, da es auch auf der Oppositionsseite Konkurrenzkampf herrscht. Bei den letzten Parlamentswahlen hatte die Regierungspartei zum dritten Mal eine zweidrittel Parlamentsmehrheit erreicht – was sogar Orbáns Partei nicht erwartet hätte. Diese Nacht mache klar, dass sich eine ganz andere Situation ergeben hätte, wenn ein „Zweiparteiensystem” in den Wahlkreisen entstanden wäre, d.h. dem Kandidaten der Regierungspartei wäre ein einziger Kandidat der Opposition gegenübergestanden.

Die jetzige Wahl (am 13. Oktober) erfüllt die vorherrschende Forderung der Opposition – nach einer „engstmöglichen Kooperation” – die daher notwendig und der einzige Weg zur Maximierung der Möglichkeiten ist. Das bedeutet, dass in den Wahlbezirken nur ein Oppositionskandidat gegen den Kandidaten der Regierungspartei antreten sollte.

Wenn dieses Abfahrtsschema dazu führt, dass der Sitz des Budapester Oberbürgermeisters, sowie mindestens die Hälfte der Budapester Bezirke – denn die Opposition ist hauptsächlich in der Hauptstadt stark – sowie in 6-7 kleineren Städten von Oppositionskandidaten besetzt werden, dann kann dadurch eine ähnliche Situation entstehen, wie das schon von Carothers beschrieben wurde. Er meinte, wenn die Opposition in den Kommunalwahlen kleinere Erfolge feiert, könne sie dadurch lokale Demokratisierungsprozesse einleiten und damit beginnen, das Regime von kommunalen Positionen aus zu schwächen. Durch die Analyse von autoritären, chinesischen Beispielen, kamen die Autoren Jennifer Gandhi und Ellen Lust-Okar auch zu dem Schluss, dass Kommunalwahlen helfen können, die Demokratisierung voranzutreiben (creeping democratization).

Dies ist insofern entscheidend, dass die hybriden Regime bis dato langfristig keine neue Alternative gegenüber stabilen autoritären Systemen geboten haben. So besteht auch die Möglichkeit, dass auch die ungarische Variante eine neue Richtung einschlägt. Denn die Existenz demokratischer Institutionen, auch wenn sie willkürlich oder voreingenommen funktionieren, bietet den Herausforderern nach wie vor die Möglichkeit die Regierungspartei von der Macht zu entfernen.

Nicht ohne Risiko

Obwohl das erwähnte Szenario realistisch ist, darf natürlich nicht vergessen werden, dass es sich nur um eine Theorie handelt. Wenn die Wahlergebnisse eine Neuausrichtung der politischen Machtbeziehungen mit sich bringen, kann das System als Antwort auch in eine autoritäre Richtung steuern, um dadurch einen Machtverlust zu verhindern.

Gleichzeitig muss unterstrichen werden, dass es nicht reicht, wenn ein solches Regime auf einmal stürzt. Wie Joakim Ekman in seiner vergleichenden Studie über hybride Regime illustriert, kann ein Regimesturz auch die Wiederherstellung alter Machtverhältnisse zur Folge haben, wenn die Beziehungen zwischen der politischen Klasse, die das Regime stürzen will und der Gesellschaft nicht eng geschnürt sind – d.h. der vorgenannten fehlt es an Legitimation, und/oder sie ist wegen Kooperationsunfähigkeit gespalten und hat keine deutliche Unterstützung bei den Wählern. Was Ungarn betrifft, sollten sich also die ausländischen Interessenten auf die Kommunalwahlen 2019 konzentrieren, wenn sie sich für die zukünftige Stabilität des Orbán-Regimes interessieren. Denn die Reproduktion der gegenwärtigen Struktur und deren politischen Macht würde die Stabilität des hybriden Charakters des Orbán-Regimes sowie die weitere Erosion der Opposition aufzeigen.