Der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober und Israels Vergeltungsmaßnahmen in Gaza haben in Europa zu einer Welle von Antisemitismus und Islamophobie geführt. In Deutschland wurden mehrere pro-palästinensische Demonstrationen verboten, während Berichten zufolge viele jüdische Mitglieder der Gesellschaft darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Armin Langer, Assistenzprofessor für Europastudien an der Universität von Florida und ordinierter Rabbiner, sprach mit uns über das Recht auf Protest, das Funktionieren von Stereotypen und die besten Möglichkeiten, ihnen zu begegnen.

Green European Journal: Nach dem Hamas-Angriff auf israelische Zivilist*innen und Israels Vergeltungsmaßnahmen in Gaza ist die öffentliche Diskussion in Europa islamfeindlicher geworden. In Deutschland zum Beispiel sprach sich Bundeskanzler Olaf Scholz für mehr und schnellere Abschiebungen von Migrant*innen aus, während die Bild-Zeitung ein „Manifest“ veröffentlichte, das im Endeffekt nicht mehr als eine Sammlung von Stereotypen über die im Land lebenden Muslim*innen war. Woher kommt diese Stimmung?

Armin Langer: Das ist überhaupt nicht neu. Es gibt schon seit einiger Zeit eine Debatte über Migration, die dem aktuellen Konflikt in Israel und Gaza vorausgeht. Friedrich Merz, der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union (CDU), fordert zum Beispiel seit langem mehr Abschiebungen und eine restriktivere Einwanderungspolitik. Ganz zu schweigen von der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD), die seit Jahren einwanderungsfeindliche Stimmungen verbreitet.

Zu dieser bereits bestehenden Debatte kam ein neues Element hinzu: Nach den Anschlägen vom 7. Oktober fordern Politiker von Einwanderern Solidarität mit Israel oder drohen ihnen mit der Verweigerung der deutschen Einbürgerung, wenn sie das Existenzrecht Israels nicht anerkennen. Diese Diskussionen über die vermeintlich fehlende Unterstützung Israels und die mutmaßliche Befürwortung des Terrorismus durch Einwanderer machen den deutschen Fall zu einer Besonderheit in Europa oder sogar weltweit. Hier wird das Recht einer Gruppe von Menschen, Staatsbürger*in zu werden, von ihrer Meinung über Israel abhängig gemacht.

In Deutschland wird die Sicherheit Israels als so genannte Staatsräson angesehen. Das bedeutet, dass die Außenpolitik Israel unterstützen muss, wenn dessen Existenz auf dem Spiel steht; antisemitische Äußerungen gelten als verfassungswidrig. Kann das auch eine Rechtfertigung für ein strengeres Vorgehen gegen israelfeindliche Äußerungen sein?

Das deutsche Strafgesetzbuch fordert Maßnahmen gegen Antisemitismus, aber auch gegen sämtliche Formen von Rassismus und Diskriminierung. In der Sprache des Strafgesetzbuches ist jede Art von „Volksverhetzung“ strafbar. Trotz dieses Grundsatzes scheint dieser Ansatz hauptsächlich auf Antisemitismus angewandt zu werden und weniger auf andere Formen von Rassismus, insbesondere nicht auf den antiarabischen Rassismus und Islamophobie. Im Gegenteil setzen viele derjenigen, die die arabischen und muslimischen Gemeinschaften attackieren, unter dem Vorwand, dass sie angeblich antisemitische Ideologien fördern, selbst Islamophobie und antiarabischen Rassismus fort. Dabei werden alle diese Bevölkerungsgruppen pauschal unter den Verdacht gestellt, antisemitisch zu sein, oft allein aufgrund ihres arabischen Erbes oder ihrer muslimischen Identität.

Es kann nicht rechtmäßig sein – und schon gar nicht moralisch vertretbar –, Demonstrationen allein aufgrund unbewiesener Annahmen zu verbieten, bevor sie überhaupt stattfinden.

Dies zeigt sich beispielsweise am Verbot verschiedener friedlicher pro-palästinensischer Kundgebungen in Berlin, München und vielen anderen deutschen Städten. Das Hauptargument lautet oft, dass diese Kundgebungen und Demonstrationen zu antisemitischen Äußerungen führen könnten. Natürlich sind antisemitische Äußerungen inakzeptabel, aber die Annahme, dass die Entscheidung einer Gruppe von Palästinensern, oder Deutschen palästinensischer Abstammung und ihrer Verbündeten, sich öffentlich zu versammeln, automatisch zu Antisemitismus führen würde, ist äußerst problematisch. Dadurch werden sie als eine homogene Gruppe behandelt, deren Mitglieder keinen freien Willen und keine eigene Meinung haben. Es kann nicht rechtmäßig sein – und schon gar nicht moralisch vertretbar –, Demonstrationen allein aufgrund unbewiesener Annahmen zu verbieten, bevor sie überhaupt stattfinden. Wenn einzelne Demonstrant*innen während einer Kundgebung antisemitische Äußerungen machen, sollten sie sanktioniert werden, das sollte jedoch nicht die gesamte Kundgebung betreffen. Bei den genehmigten Demonstrationen konnte man nämlich sehen, dass die Behörden keine überwältigende Anzahl antisemitischer Äußerungen dokumentiert haben.

Deutschland beherbergt sowohl eine der größten palästinensischen Diasporagruppen als auch eine der größten israelischen Diasporagruppen weltweit. Diese beiden Gemeinschaften leben oft zusammen, in denselben städtischen Räumen, wie zum Beispiel in Berlin-Neukölln. Die Beschränkung der Sichtbarkeit der Palästinenser*innen kommt nur weißen Deutschen zugute, da sie dazu dient, die Schuldgefühle für die Shoah zu lindern. Indem sie die Herausforderungen der palästinensischen Gemeinschaft herunterspielen und die Aufmerksamkeit von Fragen zu den Rechten der Palästinenser ablenken, versuchen weiße Deutsche, sich im aktuellen Gaza-Krieg auf der vermeintlich richtigen Seite der Geschichte zu positionieren. Sie nehmen diesen Konflikt fälschlicherweise als Parallele zu den historischen Ungerechtigkeiten wahr, die von der Generation ihrer Großeltern während des Holocausts begangen wurden. Diese Fokusverschiebung bietet ihnen einen psychologischen Puffer gegen Schuld- und Verantwortungsgefühle. Dieser deutsche Bewältigungsmechanismus kommt natürlich nicht der palästinensischen Sache zugute, aber er kommt auch nicht ganz Israel zugute. In Israel selbst gibt es zahlreiche Kundgebungen zur Unterstützung von Verhandlungen und Waffenstillstand; es wird sogar zu Gesprächen mit der Hamas aufgerufen, damit die entführten israelischen Zivilist*innen zurückkehren können.

Pro-palästinensische Demonstrationen sind also kein Zeichen der Unterstützung für eine der beiden kämpfenden Parteien?

Während wir hier sprechen, finden immer noch Angriffe statt. Seit Beginn des Krieges sind mehr als 11.000 Palästinenser*innen getötet worden, und etwa 1.200 israelische Zivilist*innen wurden ermordet. Vor diesem Hintergrund sollte in einem Land, das sich als Demokratie bezeichnet, ein Verbot von Demonstrationen, die zu einem Waffenstillstand aufrufen oder ausdrücklich pro-palästinensisch sind, nicht stattfinden.

Gleichzeitig werden pro-israelische Demonstrationen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert: Am 22. Oktober fand in Berlin eine große pro-israelische Kundgebung statt, bei der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede hielt und Tausende von Deutschen ihre Unterstützung für Israel zum Ausdruck brachten. Ich schätze ihre Solidarität mit den israelischen Zivilist*innen, die unter den Terroranschlägen gelitten haben. Gleichzeitig wünschte ich mir, dass dieselben Menschen auch ihre Anteilnahme für die palästinensischen Zivilist*innen zum Ausdruck bringen würden, die ihr Leben verloren haben und jetzt unter den Angriffen leiden. Das Leben palästinensischer Zivilist*innen ist nicht weniger wertvoll als das Leben israelischer Zivilist*innen. Dennoch sehe ich nicht viele Stimmen, die ihre Empathie für alle zivilen Opfer des Konflikts zum Ausdruck bringen. Die deutsche politische und kulturelle Elite zeigt eine besonders einseitige Perspektive in diesem Konflikt.

Es gibt Berichte über einen deutlichen Anstieg von Hassverbrechen gegen Juden in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

Es gab viele Straftaten, aber mir sind keine Verbrechen – also versuchte oder tatsächliche physischen Angriffe – bekannt, abgesehen von dem Versuch, Molotowcocktails auf eine Synagoge in Berlin zu werfen. Zurzeit [am 7. November] wissen wir jedoch noch nicht, wer die Täter*innen waren. Es könnten Palästinenser*innen gewesen sein, aber auch weiße Deutsche. Wir haben gesehen, dass die französischen Behörden eine Reihe von antisemitischen Graffiti in Paris mit russischen Netzwerken in Verbindung gebracht haben, die versuchen, die Krise auszunutzen, um Verwirrung in Westeuropa zu stiften. Natürlich gibt es auch ohne die angebliche russische Einmischung in Deutschland erheblichen Antisemitismus – aber das ist nichts Neues. In Jahren, in denen es zu einer Eskalation zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten kommt, steigt auch die Zahl der antisemitischen Übergriffe. Das ist nun schon seit zwei Jahrzehnten der Fall. Die statistischen Daten zeigen, dass die Zahlen in den Folgejahren tendenziell zurückgehen. Dieser Trend zeigt auch, dass viele Menschen den Unterschied zwischen Jüd*innen in Deutschland und dem Staat Israel nicht verstehen. Natürlich ist eine Synagoge in Berlin nicht für den Krieg in Gaza verantwortlich. Gegen diese Fehlinformation muss aktiv vorgegangen werden.

Sie haben in einem Berliner Bezirk gelebt, der für seinen hohen arabischen und muslimischen Bevölkerungsanteil bekannt ist, Ihr autobiografisches Buch trägt den Titel Ein Jude in Neukölln, und Sie sind einer der Gründer der Salaam-Shalom-Initiative, einer Gruppe, die Juden und Muslime zusammenbringt. Wahrscheinlich haben Sie innerhalb der muslimischen Gemeinden unterschiedliche Haltungen erlebt, sowohl positive als auch negative. Sind Sie auf starke Stereotypen gestoßen, oder hatten Sie jemals Probleme im Zusammenhang mit Ihrem jüdischen Hintergrund, wenn Sie mit Muslim*innen in Deutschland gesprochen haben?

Ich habe viele Jahre in der Sonnenallee gelebt, die heutzutage auch als „arabische Straße“ bekannt ist, da dort eine größere palästinensische Gemeinde lebt und die nach 2015 zu einem kulturellen Zentrum der syrischen Gemeinde in Berlin wurde. Antisemitische Äußerungen sind mir dort nie begegnet. Als Vertreter der Salaam-Shalom-Initiative besuchte ich regelmäßig Moscheen, so wie Schulen mit einem sehr hohen Anteil an Kindern aus muslimischen und Migrantenfamilien, und die Reaktionen waren überwältigend positiv. Oft stieß ich auf Neugier, denn die meisten hatten vor mir noch keine Jüd*innen getroffen.

Der beste Weg, Stereotypen zu bekämpfen, ist der persönliche Kontakt.

Aber das gilt auch für nicht-muslimische Deutsche: Es gibt nicht viele Jüd*innen in Deutschland, vor allem aufgrund der deutschen Geschichte. Gerade deshalb sind Dialogprojekte wichtig. Der beste Weg, Stereotypen zu bekämpfen, ist der persönliche Kontakt. Das klappt nicht immer, aber es ist immer noch der beste Weg, sie zu hinterfragen. Gerade in Zeiten wie diesen wäre es wichtig, Projekte zu unterstützen, die Menschen verschiedener ethnischer und religiöser Identitäten zusammenbringen, damit sie verstehen, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben. Nicht nur in kultureller Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Fragen wie Wohnraum, wirtschaftliche Herausforderungen und viele andere alltägliche Probleme.

Jüdische und muslimische Leben sind gleichermaßen vom populistischen Diskurs über Migration betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Ich glaube, dass Allianzen zwischen diesen Minderheiten deutlich machen können, dass Deutschland angesichts der schrumpfenden einheimischen Bevölkerung Zuwanderung braucht. Ohne Zuwanderung könnten die Deutschen ihren Lebensstandard nicht aufrechterhalten, denn weniger Zuwanderer bedeuten weniger Produktivität und weniger Einnahmen für den Staat. Dies gilt auch für alle anderen westeuropäischen Länder. Die derzeitige Debatte, in der Einwander*innen als Antisemit*innen verteufelt werden, lässt die Gründe für die Einwanderung völlig außer Acht und spielt mit Emotionen, anstatt zu versuchen, intellektuell zu argumentieren und eine gemeinsame Basis zu finden.

Haben Sie seit Anfang Oktober mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Deutschland gesprochen?

Es gibt jetzt Gespräche in der Öffentlichkeit und Schlagzeilen in den Zeitungen, dass Juden Deutschland verlassen müssen, weil es hier für sie nicht mehr sicher sei. Das ist aber nicht der Fall. Deutschland ist neben Israel das einzige Land, in dem die Zahl der Juden ständig wächst. Insbesondere Berlin zieht jüdische Einwander*innen aus Israel, aus dem Vereinigten Königreich und aus den Vereinigten Staaten an, und das wird wahrscheinlich auch so bleiben.

Jede einzelne Jüd*in in Berlin, mit dem ich in den letzten Wochen gesprochen habe, äußerte irgendeine Art von Unsicherheit, aber niemand dachte daran, wegzugehen. Der Grund für diese Fixierung auf die jüdische Angst ist, dass sie den nicht-jüdischen Deutschen die Möglichkeit bietet, sich als Retter der Juden zu positionieren. Deshalb hat die Wochenzeitschrift Der Spiegel Gesichter deutscher Jüd*innen auf ihrer Titelseite gezeigt, begleitet von dem Text „Wir haben Angst“. Diese ganze Situation wird von vielen Deutschen als eine Gelegenheit gesehen, das wiedergutzumachen, was ihre Gesellschaft vor achtzig Jahren getan hat. Dies ist ein falscher Ansatz. Es gibt keinerlei Verbindung zwischen dem Holocaust und dem gegenwärtigen Krieg. Jüd*innen mögen in beiden Fällen Opfer sein, aber die beiden Situationen sind nicht vergleichbar. Heute ist Israel eine der stärksten Militärmächte im Nahen Osten, während die jüdische Gemeinschaft während des Holocausts fast völlig schutzlos war.

Wie würden Sie als Soziologe Antisemitismus, in der Form wie er sich heute in Deutschland manifestiert, definieren? Bezieht er sich auf Stereotypen über eine Gemeinschaft oder auf Rassismus gegenüber einer Gruppe? Handelt es sich um Hass in Verbindung mit einer Ideologie oder konspirativem Denken? Handelt es sich um ein irrationales Ressentiment, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird?

Ich denke, es bedeutet alles von dem, was oben steht. Antijüdische Ressentiments können sich in Stereotypen oder Vorurteilen, aber auch in Verschwörungstheorien äußern. Es ist auch wichtig zu betonen, dass die antisemitischen Tropen sehr oft nicht explizit sind; stattdessen bauen sie implizit auf uralten Stereotypen über die Jüd*innen auf. Ein Beispiel dafür sind die berüchtigten Verschwörungstheorien über George Soros. Sie beruhen auf dem Bild des reichen, mächtigen und gierigen Juden, der einen geheimen, bösartigen Plan zur Umgestaltung der Welt verfolgt. Diejenigen, die diese Theorien verbreiten, müssen die Jüd*innen oft nicht einmal beim Namen nennen. Es genügt, wenn sie Codewörter und Leitmotive verwenden; die Menschen werden es verstehen, weil der Antisemitismus schon so lange in der europäischen Kultur verankert ist – er war fast 2000 Jahre lang die Norm in Europa.

Natürlich ist er nicht mehr die Norm, aber aufgrund seiner langen Geschichte sowie seiner Einbettung und tiefen Verwurzelung in der Kultur ist er immer noch sehr präsent. Das ist auch der Grund, warum ich die aktuellen politischen Diskussionen in Deutschland so absurd finde – denn es wird oft angenommen, dass Antisemitismus ein neues, von Einwander*innen importiertes Phänomen sei. Tatsächlich sagen uns Statistiken, dass die überwältigende Mehrheit der antisemitischen Hassverbrechen, einschließlich körperlicher Gewalt, immer noch von weißen Deutschen begangen wird. Dennoch haben sich deutsche Medien und Politiker*innen in den letzten Wochen fast ausschließlich auf den Antisemitismus unter Muslim*innen und Einwanderergruppen konzentriert. Das ist ein weiterer Versuch, diese Gruppen zu dämonisieren und die Diskussion auf den Antisemitismus der anderen zu verlagern.

Aber neben dieser einheimischen, in der Idee der „weißen Vorherrschaft“ wurzelnden Auffassung gibt es auch eine andere Art von Antisemitismus, die in Europa relativ neu ist.

Warum sollte es eine andere Art von Antisemitismus sein? Ob er nun von einer Araber*in, einer Muslim*in oder einem weißen Deutschen ausgeht, Antisemitismus ist nichts grundlegend anderes. Wenn wir den Antisemitismus ernsthaft bekämpfen wollen, müssen wir ihn als ein Phänomen behandeln, das alle Teile der Gesellschaft betrifft.

Ja, aber während der Antisemitismus in Europa auf jahrhundertealten Stereotypen und Verschwörungstheorien beruht, hängt er in den muslimischen Gemeinschaften vor allem mit der fehlgeleiteten Identifizierung zwischen der Politik des israelischen Staates (und dem Leid, das sie den Palästinensern zufügt) und der jüdischen Gemeinschaft im Allgemeinen zusammen. In diesem Sinne könnte sie unterschiedliche Antworten erfordern.

Ich glaube nicht, dass diese Missstände Antisemitismus rechtfertigen, aber ich glaube auch nicht, dass die Widerlegung von Verschwörungen mit rationalen Argumenten ausreicht, um sie zu zerstreuen. Die Vorstellungen, dass Jüd*innen die Medien kontrollieren und Soros die Welt beherrscht, entbehren jeglicher Grundlage, aber dennoch gibt es viele Deutsche, die daran glauben. Und selbst die Verweise auf Israel sind nicht spezifisch für den Antisemitismus unter Muslim*innen – sie tauchen auch in Diskussionen zwischen weißen Deutschen auf. So hört man zum Beispiel oft das Argument, Israel tue den Palästinenser*innen genau dasselbe an, was die Nazis den Juden angetan haben. Dieses Argument ist offensichtlich falsch und kann als weiteres Mittel dienen, damit sich weiße Deutsche besser fühlen können. Wir müssen alle verschiedenen Formen und Erscheinungsformen des Antisemitismus gleichzeitig angehen; Bildung und persönliche Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen könnten hier sehr hilfreich sein, insbesondere wenn antijüdische Gefühle ihren Ursprung in der Verwechslung von Judentum mit dem Staat Israel haben.

Die Kritik, die in diesen Tagen an die europäische Linke herangetragen wird, ist ähnlich: Sie scheint keinen Unterschied zu sehen zwischen der palästinensischen Zivilbevölkerung, die unter dem derzeitigen Krieg leidet, und der Hamas, der Terrorgruppe, die am 7. Oktober rund 1200 Israelis getötet und 240 entführt hat. Wie kann diese Verwirrung überwunden werden?

Das sollte nicht allzu kompliziert sein. Man kann eine Regierung kritisieren und gleichzeitig Solidarität mit ihrem Volk bekunden. Wenn man die Terrororganisation Hamas verurteilt, heißt das nicht, dass man sich nicht mit den Palästinenser*innen solidarisieren kann, die in dem gegenwärtigen Konflikt leiden und sterben, ebenso wie die israelische Zivilbevölkerung. Wir dürfen nicht vergessen, dass 70 Prozent der Gazaner*innen wollen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde den Gazastreifen von der Hamas übernimmt, und die Hälfte der Gazaner*innen will, dass die Hamas Israel in den Grenzen von 1967 anerkennt. Natürlich gibt es Gazaner*innen, die die Hamas unterstützen, aber wir sollten nicht die schwierigen Umstände vergessen, unter denen diese Menschen aufgrund der Blockaden durch Israel und Ägypten leben müssen. Das erklärt zumindest zum Teil, warum ihre verzweifelte Lage sie nach extremen Lösungen suchen lässt, auch wenn das keinen Terrorismus rechtfertigen sollte.

Man kann eine Regierung kritisieren und gleichzeitig Solidarität mit ihrem Volk bekunden.

Gleichzeitig unterstützt, wie ich bereits erwähnt habe, die Mehrheit der Bewohner*innen des Gazastreifens die Hamas nicht und leidet immer noch unter den derzeitigen Vergeltungsmaßnahmen Israels; daher kann die Forderung nach einem Waffenstillstand nicht mit einer Pro-Hamas-Haltung gleichgesetzt werden. In der Tat können wir feststellen, dass die Demonstrant*innen selbst nicht für die Hamas sprechen. Vor nicht allzu langer Zeit fand auf meinem Campus in Gainesville, Florida, eine pro-palästinensische Kundgebung statt, zu der Hunderte von Student*innen sowie eine Reihe von Bewohner*innen aus der Stadt gekommen sind. Einer der Teilnehmer*innen versuchte, etwas zugunsten der Hamas zu skandieren, und die Leute schlossen ihn sofort aus, so dass er beschloss, die Veranstaltung zu verlassen. Ich denke, das zeigt auch, dass es in der palästinensischen Gemeinschaft und unter ihren Verbündeten ein breites Spektrum an politischen Meinungen und ideologischen Standpunkten gibt, und das sollte sich auch in der breiteren Diskussion widerspiegeln.

Sie leben jetzt in den USA. Haben Sie den Eindruck, dass die amerikanische Gesellschaft mit dem Konflikt – und dem damit einhergehenden Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit – anders umgeht als Europa und insbesondere Deutschland?

In den USA gibt es durch den ersten Verfassungszusatz einen starken Schutz der Meinungsfreiheit. Die US-Regierung verfolgt zwar eine bedingungslos pro-israelische politische Agenda, zensiert aber keine pro-palästinensischen Demonstrationen, wie es die deutschen Behörden getan haben. Der Präsident meiner Universität, der ehemalige republikanische Senator Ben Sasse, hat seine Pro-Israel-Haltung sehr deutlich gemacht, aber auch betont, dass die Student*innen sowohl pro- als auch anti-israelische Positionen vertreten können, da die Universität die Meinungsfreiheit verteidigen wird.

Auch außerhalb von Gainesville gab es in amerikanischen Städten eine Reihe von Kundgebungen, bei denen palästinensische Amerikaner*innen und ihre Verbündeten, darunter auch eine beträchtliche Anzahl jüdischer Amerikaner*innen, einen Waffenstillstand forderten. Auch die Regierung Biden hat erkannt, dass der derzeitige Krieg in Gaza zu einem Anstieg antisemitischer und islamfeindlicher Hassverbrechen geführt hat, und hat zu Maßnahmen gegen beide Formen des Hasses aufgerufen.

Wie könnten progressive oder linke Bewegungen Israelis und Palästinenser*innen konstruktiv helfen?

Sie sollten die Stimmen derjenigen Aktivistengruppen und Bewegungen stärken, die versuchen, zu Frieden und Versöhnung in Israel und den palästinensischen Gebieten beizutragen. Sie sollten ihre Solidarität mit den zivilen Opfern zum Ausdruck bringen, ob sie nun Israelis oder Palästinenser*innen sind oder einer anderen Nationalität angehören.

In Israel und in den palästinensischen Gebieten gibt es eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen (NRO), die unsere Unterstützung benötigen. Einige dieser Gruppen konzentrieren sich auf die Bereitstellung von Rechtshilfe für Palästinenser*innen in Israel und in ihren Gebieten, andere leisten gerade jetzt in Gaza humanitäre Hilfe an vorderster Front. Neben diesen NROs gibt es in Israel und Palästina viele Gruppen, die Gespräche zwischen Israelis und Palästinenser*innen fördern oder die Familien der Opfer auf beiden Seiten unterstützen. Es gibt Gruppen, die Eltern zusammenbringen, die ihre Kinder durch den Konflikt verloren haben. Es gibt künstlerische Projekte wie Theater oder Fotokollektive, deren Schwerpunkt auf der Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinenser*innen liegt. Diese Gruppen brauchen die Unterstützung der europäischen Progressiven, denn es gibt keinen anderen Ausweg aus diesem Blutvergießen als die Suche nach Wegen zu einem gerechten Frieden.