Mit seiner umfassenden militärischen Invasion in der Ukraine hat Wladimir Putin keinen Zweifel daran gelassen, wie weit er bei der Verfolgung seiner Ziele zu gehen bereit ist, und die politischen Entscheidungsträger des Westens vor die Aufgabe gestellt, sich auf eine angemessene Reaktion zu einigen. Was als Nächstes geschieht, wird nicht nur über die Zukunft der Ukraine, sondern auch über die der gegenwärtigen globalen geopolitischen Ordnung entscheiden. Wir sprachen mit dem Russland-Experten und ehemaligen langjährigen Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, Jens Siegert.

Was wir lange befürchtet haben, ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, ist nun geschehen. Was will Putin damit erreichen?

Die vergangenen Wochen hatten einen Hauch der Kubakrise. Spannungen wurden konstant aufgebaut und man erwartete, dass irgendwann einer blinzelt. Aber Putin hatte offenbar ein anderes Spiel im Kopf. Er lässt angreifen. Das Ergebnis ist eine Katastrophe für alle. Natürlich besonders für die Ukraine, aber auch für Russland. Und auch für den Westen. 

Fast alle Expert*innen sind davon ausgegangen, dass Putin ein rational kalkulierender Machtpolitiker ist. Jemand, der nüchtern Chancen und Risiken abschätzt und politische Ziele verfolgt. Die kulturellen und historischen Erklärungen zur Ukraine, die er zum Beispiel in seinen Geschichtsaufsätzen betonte, hielten viele eher für ideologische Ablenkungen, vielleicht Rechtfertigungen. Das hat sich nun als falsch erwiesen. Wie es scheint, glaubt er, was er da sagt.

Viele sind davon ausgegangen, dass der Druck, den Putin aufbaut, ein Mittel sei um Konzessionen vom Westen zu bekommen. Aber nach dem Angriff ist nun klar: Das war es nicht. Wir haben diese Phase hinter uns gelassen. Nach dem Angriff kann der Westen, zumindest erst einmal, keine Konzessionen machen. Das muss auch Putin klar sein.

Die meisten Menschen, mit denen ich in Moskau spreche, sind geschockt. Darunter sind auch viele, die im Prinzip Putins Klagen über den Westen und der NATO-Osterweiterung teilen. Niemand hat das erwartet und niemand versteht was das Ziel sein soll.

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Wie geht es denn weiter? Putin hat gesagt es wird keine militärische Besetzung geben, heißt das er will einen schnellen Einmarsch, die Regierung stürzen und dann wieder gehen?

Es gibt viele Widersprüche. Putin sagt, er wolle die „Demilitarisierung und Denazifizierung“ der Ukraine, aber keine Besetzung. Ich sehe nicht, wie das gehen soll. Schauen wir nach Afghanistan 1979 oder in den Irak 2003. Nachdem die Sowjetunion und die USA mit Verbündeten erst einmal drin waren und das Regime gestürzt hatten, kamen sie nicht mehr raus. Das neue Regime, das Putin in der Ukraine offenbar anstrebt, wird sich ohne russisches Militär kaum halten können.

Putin glaubt tatsächlich, was er sagt.

Wie reagiert die russische Zivilgesellschaft?

Es gibt im Grunde keine russische Zivilgesellschaft als Gesellschaft mehr, nur noch vereinzelte Leute und Gruppen. Putin hat in den letzten Jahren tabula rasa gemacht. Nach dem Einmarsch dürften die Schrauben im Land noch weiter angezogen werden. Das Regime dürfte noch repressiver werden, als es bereits ist. Keine guten Aussichten für Dissidenz.

Putin ist de facto Alleinherrscher. Der öffentliche Auftritt des Nationalen Sicherheitsrats spricht Bände. Alle Minister mussten sich dort vor ihn stellen, Loyalität bekunden und sagen, dass sie die Anerkennung der separatistischen Gebiete Luhansk und Donezk befürworten. Die Hälfte von ihnen stand zitternd vor Putin. Offenbar war ihnen klar, zu welchen Schritten Putin bereit war – und das machte ihnen Angst.

Sehen wir die Rückkehr in eine Blockkonfrontation wie zu Zeiten des Kalten Krieges?

Dafür müsste es ja Blöcke geben. Russland hat keinen Block. Mit der Ausnahme von Nicaragua, Venezuela, Kuba, Syrien und Belarus – und Lukaschenka kann gar nicht anders – unterstützt niemand Russland. Selbst der iranische Außenminister hat sich gegen den russischen Einmarsch geäußert. Die Frage ist, ob Russland jetzt über die Jahre als internationaler Paria isoliert wird. Das kommt sehr stark auf die Chinesen an, die sich bisher bedeckt halten.

Das neue Regime, das Putin in der Ukraine offenbar anstrebt, wird sich ohne russisches Militär kaum halten können.

Waren Europa und Deutschland zu naiv gegenüber Russland?

Ja, und zwar die ganze Zeit. Es ist ganz einfach: Zu wenige haben verstanden, was es heißt, dass Russland bereit zur Kontrolle von Ländern wie Georgien und Ukraine in den Krieg zu ziehen, wir aber nicht.

Wie sollte der Westen denn jetzt vorangehen?

Es bleibt kaum etwas anderes übrig, als harte Sanktionen. Die Frage ist auch, wie geht es denn nun weiter mit Ukraine? Schafft es Russland das Regime so schnell zu stürzen, dass der Westen gar nicht mehr dazu kommt die gegenwärtige ukrainische Regierung zum Beispiel mit Waffenlieferungen zu unterstützen? Darauf zielt ja auch Putins verdeckte Drohung eines Nuklearschlags ab.

Ist nicht-militärische Abschreckung gegenüber Putin wirksam? Müssen wir jetzt angesichts der Lage uns mehr mit militärischer Abschreckung auseinandersetzen?

Das ist, wie man auf Russisch sagen würde, eine komplexe Angelegenheit. Es geht um beides: militärische Abschreckung und ökonomischen Druck. Schauen wir nur auf den Kalten Krieg und die Ostpolitik: Das deutsche Militärbudget ist nie stärker gewachsen als unter Willy Brandt.

Was bedeutet das für die Grünen in der Bundesregierung?

Die Ukraine kann für die jetzige grüne Führung in der Regierung ein erneuter Kosovo-Moment werden. Sie müssen sich jetzt beweisen. Und das tun sie. Sie machen bisher fast alles richtig. Aber sie müssen auch dafür sorgen, dass die Grüne Basis dabei ist und mitmacht.