Manchmal sogar von unerwarteter Seite. Es ist nun Zeit, die Schulden, die der portugiesische Staat angehäuft hat, neu zu verhandeln.

Es war allen klar, dass es für Portugal nicht einfach wird, wenn es gezwungen wäre, internationale Hilfe anzunehmen, da ihm vollkommen unrealistische Auflagen auferlegt wurden, um zu externen Finanzquellen Zugang zu bekommen. Aber nur wenige verstanden sofort die verheerenden und dramatischen Konsequenzen, die dies für das Leben der Menschen in Portugal haben würde. Jedoch erlaubten uns die durch dasMemorandum of Understanding auferlegten Bedingungen, die Zukunft vorauszuahnen: Unakzeptable Bedingungen, eingebüßte Souveränität und insbesondere die Durchsetzung einer Sparpolitik, die schon getestet wurde und gescheitert ist (dies zeigte sich am Fiasko in Lateinamerika in den 1970er Jahren), mit der Privatisierung von strategischen Sektoren, verschärften Arbeitsbedingungen, der Verarmuung und der Plünderung natürlicher Ressourcen.

 

 Eine neue öffentliche Haltung

Die Lebensbedingungen, hier und jetzt, zeigen, dass dies eine gescheiterte Strategie ist. Durch vermehrte politische und soziale Interventionen und dem Druck einer öffentlichen Bewegung, die aus der Krise entstanden ist, hat sich aber die Wahrnehmung des Problems ein Stückweit verschoben. Der neue Blick erlaubt ein grundlegend anderes Verständnis von öffentlicher Schuld und führt sowohl zur Weigerung, weiterhin Schulden zurückzuzahlen als auch einer starken Verurteilung der absurden Politik, die sinnloserweise auferlegt wurde, die einzig brutale Auswirkungen hatte.

Was durchgesetzt wird, sind keine Reformen, die eine vernünftige Verwendung von Mitteln erlauben, nicht einmal eine faire Verteilung von Vermögen für eine neue Form von Entwicklung. Was durchgesetzt wird, ist eine Austeritätsdiktatur, die – trotz aller Kürzungen – die öffentliche Verschuldung erhöht und nicht reduziert hat. Die öffentliche Verschuldung hat heute ein untragbares Niveau erreicht und eine Rezessionsspirale eingeleitet, die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit verstärkt hat und zu einer unkontrollierten Ausbeutung natürlicher Ressourcen führt, über die zu verfügen, aber entscheidend für unsere Zukunft wären.

 

Wenn Armut keine Schulden zahlt

Die harten Konsequenzen dieser Strategie zeigten sich rasch und widersprachen allen von der Troika gemachten Vorhersagen. Diese war verpflichtet, alle eigenen Vorhersagen zu korrigieren: über Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosenrate, erwartetes Defizit, Entwicklung der Schulden, … in anderen Worten, alles. In weniger als zwei Jahren, nach sechs Revisionen, sehen wir die offensichtlichen Fehler der Durchsetzung dieser Strategie und falscher Annahmen über die zu erwartenden Konsequenzen.

Wir sehen die schweren Fehler in den Wirtschafts- und Finanzplanungen. Trotz brutaler Anstiege der Einkommens- und Umsatzsteuern, der drastischen Reduktion des Familieneinkommens, vor allem der besonders armen Familien und PensionistInnen, des Anstiegs der Arbeitszeit und der Deregulierung des Arbeitsmarktes, waren die Ergebnisse desaströs: ein dramatischer Rückgang bei den Einnahmen aus der Einkommenssteuer (im 1. Quartal 2013 betrug dieser Rückgang €1,9 Millionen), eine wirtschaftliche Schrumpfung, eine Welle von Konkursen (25 pro Tag). All dieses Maßnahmen hatten einen rezessiven Effekt, da sie die Wirtschaft lähmen und einen starken Rückgang des BIPs (4% im 1. Quartal 2013) zur Folge haben, während die Vorhersagen für dieses Jahr von einem Anstieg von 1,2% ausgingen. Die öffentliche Verschuldung beträgt mittlerweile mehr als 126% des BIP.

 

Eine Auswanderungswelle wie unter der Diktatur

Die nachhaltige und irrwitzige Durchsetzung der Austeritätsmaßnahmen und restriktiver Maßnahmen im Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen und der Ausübung fundamentaler Rechte ist sozial gesprochen eine extreme Strategie. Se beschränkt Ressourcen und Gesundheitsversorgung, Bildung und Altersvorsorge, AIDS und Sozialhilfe, alles, von dem die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft abhängen.

All dies hat verheerende Auswirkungen, vor allem für die Arbeitslosigkeit, die einen historischen Höchststand erreicht hat. Mehr als eine Million Menschen sind ohne Arbeit and mehr als die Hälfte von ihnen überleben ohne jegliche soziale Unterstützung. Gegenwärtige Vorhersagen prognostizieren eine Verschlechterung der Situation.

All diese Zahlen sind besonders schlecht für Jugendliche, von denen die meisten prekär beschäftigt sind. Sie haben keine Zukunftsaussichten, keine Hoffnung und keinen Platz, obwohl sie die qualifizierteste Generation sind, die Portugal je gehabt hat. Sie sind zur Emigration gezwungen – rund 360,000 haben dies in den letzten drei Jahren gemacht – ein unglaublicher Exodus, der nur mit dem der 1960er Jahre während der Salazar-Diktatur vergleichbar ist, als das Land in einen Kolonialkrieg involviert war.

Mittlerweile steigt die Armut, und erfasst nun zweieinhalb Millionen Menschen, also rund ein Viertel der Bevölkerung. Schulen sind tagtäglich mit hungernden Kindern konfrontiert. Anfragen wegen Nahrungsmittelhilfe haben sich in den letzten Monaten verdoppelt. In dieser Situation sind Familien der einzig verbleibende Rückzugsort, indem sie verschiedene Generationen zusammenbringen, die in die Armut geworfen wurden und zum Zusammenleben in überbelegten Häusern gezwungen sind.

 

Prominenter Protest gegen soziale Notlage

Das ist ein langsamer und schmerzhafter Tod eines Landes und seiner Ökonomie, bei dem die, die leiden, ihrer Würde, ihrer Rechte und ihrer Hoffnung beraubt wurden.

Diese untragbaren Umstände haben zu immer mehr Demonstrationen, Protesten und anderen Formen des Kampfes geführt, bei denen sich unwahrscheinliche Allianzen gebildet haben, um diese Maßnahmen und diese Regierung zu bekämpfen (in der verschiedene Mitglieder von Goldman Sachs arbeiten). Viel ist passiert, manches davon symbolisch – wie das Singen von “Grândola Vila Morena”, dem Revolutionslied von 1974, im Parlament und auf der Straße – und neue Plattformen sind entstanden, die traditionelle Bewegungen wie Gewerkschaften und neue BürgerInnenbewegungen zusammenbringen, Brücken bauen und das gegenseitige Verständnis vertiefen, um z.B. einen von beiden Gewerkschaftsdachverbänden – CGTP [1] and UGT [2] – getragenen Generalstreik zu organisieren.

Es gibt eine deutliche und tiefgehende Ablehnung, die sich an regelmäßigen öffentlichen Äußerungen zeigt, wie auch an Kritik durch frühere Regierungsmitglieder und ÖkonomInnen aller Parteien, links und rechts. Wir haben anerkannte SenatorInnen erlebt aus verschiedenen Gebieten, von ChristdemokratInnen bis SozialistInnen, früheren PräsidentInnen, Ombudsmenschen, VerfassungsjuristInnen und verschiedene katholische Kirchenführer, die die Situation als sozialen Ausnahmezustand geiseln. Sie sorgen sich auch über die steigende Kluft zwischen Institutionen und BürgerInnen, dem verbreiteten Misstrauen gegenüber der Politik, der explosiven sozialen Situation und dem Risiko, dass die gegenwärtige Empörung zu unzähmbarem Zorn wird.

Allen voran diese Prominenten verstehen die Bedeutung der Straßenproteste und des sozialen Dramas. Da Sparen das Land und Europa ruiniert und die Schulden weiter steigen, sorgen sie sich über die Zukunft, die immer unwirklicher wird. Deshalb verlangen sie ernsthafte, tiefgehende und kohärente politische Entscheidungsfindungen.

 

Für eine Neuverhandlung der Schulden durch den Staat

Es ist Zeit, „genug“ zu sagen. Es ist Zeit, die portugiesische Gesellschaft zu mobilisieren, um diese Armut aufzuhalten, die keine Schulden zahlt, und stattdessen eine politische Lösung zu fordern. Diese Lösung muss dringend eine Neuverhandlung der Schulden beinhalten, da wir, The Citizen´s Audit of Public Debt, zusammen mit Gewerkschaften und anderen dazu eingeladenen zivilgesellschaftlichen Organisationen diese Woche eine Kampagne starten. Wir stehen für eine Neuverhandlung, angeführt vom portugiesischen Staat, und nicht für eine Neuverhandlung wie in Griechenland. Es ist weder unmöglich noch einmalig in unserer aktuellen Geschichte. Dies geschah 1953 (das London Agreement), angesichts der Schwierigkeiten der Deutschen, und erlaubte einen teilweisen Schuldennachlass und eine Neuverhandlung der Zinsen, der Fristen und der Zahlungsbedingungen. Vor ein paar Monaten wurde dieses historische Faktum ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, und zwar in einem gemeinsamen Statement einer Gruppe zivilgesellschaftlicher Einrichtungen zur Wirtschaftsprüfung.

Die Zeit zum Treffen von Entscheidungen ist gekommen. Die Zeit, den Staat dazu zu bringen, die Verantwortung zu übernehmen, diesen schwierigen Prozess, in dem wir uns befinden, zu leiten. Während der Verhandlungen könnten sich nämlich die Schuldenzahlungen verzögern. Es erfordert auch öffentliche Bewusstseinbildung und Begleitung, genau so wie öffentliche Beteiligung und Prüfung. Wir sind zur Neuverhandlung der Schulden gezwungen, da diese Märkte gegenüber Menschenrechten bevorzugen. Wir brauchen in Portugal und in Europa diese Antworten, um ein europäisches Erbe und eine europäische Zivilisation zu verteidigen, das von den Finanzmärkten in Besitz genommen wurde.

Neuverhandlung ist dringend notwendig, sowohl hier als auch in anderen Ländern. Es gibt eine soziale Schuld, eine Verpflichtung zuerst und vor allem gegenüber den BürgerInnen. Es ist eine höchst prioritäre Verpflichtung, die nicht verraten werden darf.

 

Das soziale Europa steht auf dem Spiel

In Portugal, wie in anderen europäischen Ländern wie Spanien, Irland, Griechenland, Zypern, Italien und Slowenien findet ein Kampf statt zwischen dem Bewahren des Wohlfahrtsstaats (dem Symbol für die Identität des europäischen Projekts) und dem Bewahren von Privilegien für wenige mit Hilfe von Maßnahmen, die in deren Namen und gegen die Interessen der großen Mehrheit umgesetzt werden.

Das portugiesische Volk akzeptiert nicht, so wie voraussichtlich niemand dies würde, Geisel einer politischen Gegenrevolution zu werden, die von Märkten gegen Europa und gegen die Demokratie durchgesetzt wird.

Die Zeit läuft. Entscheidungen müssen getroffen werden. Frieden und kollektive Sicherheit stehen auf dem Spiel. Es gibt einen anderen Weg, einen grünen und sozial nachhaltigen – der geschaffen werden muss.

 

[1] Confederação Geral dos Trabalhadores Portugueses – Intersindical Nacional (CGTP-IN): General Confederation of the Portuguese Workers.

[2] União Geral de Trabalhadores: General Union of Workers.