Seit 30 Jahren nunmehr steht der Umweltökonom Tim Jackson an der Spitze internationaler Debatten über Nachhaltigkeit. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem einflussreichen Buch Wohlstand ohne Wachstum hat sich die Welt zwar stark verändert – durch die Pandemie und das ungebremste Heraufziehen der ökologischen Katastrophe – und doch ist sie sich doch auch verblüffend gleich geblieben: immer noch in einer wachstumsgetriebenen Zerstörungsspirale gefangen. Was hat Jacksons neues Buch, Wie wollen wir leben, über den Weg aus dem Dilemma zu sagen?

Während Wohlstand ohne Wachstum zum Teil die von Austeritätsbesessenen Antworten auf die Große Rezession reflektierte, fällt Wie wollen wir leben in eine andere Welt. Es ist eine Welt, in der das Bewusstsein des Klimawandels als größte Menschheitsherausforderung langsam konsensfähig wird. Selbst bei den US-Republikanern suchen jüngere Mitglieder nach Wegen aus der Leugner-Ecke, in die sich die Partei manövriert hat! Es ist aber auch eine Welt, in der die Covid-19-Pandemie nicht nur viele Menschenleben gefordert und viele Existenzen zerstört hat, sondern, über die Notwendigkeit staatlicher Intervention, auch dem übermütigen Neoliberalismus zumindest einen Schlag versetzt hat – einem der Hauptverursacher sowohl des Finanzchaos als auch des drohenden Zusammenbruchs der planetarischen Lebenserhaltungssysteme.

Sowohl der Rettungsplan von US-Präsident Joe Biden als auch der EU-Pandemiefonds ‘Next Generation EU’ stellen das seit der Reagan-Thatcher-Ära herrschende Paradigma der ungezügelten Märkte in Frage, das auch bis tief in die Mitte-Links-Politik eingesickert war. Parallel dazu sind vom Übereinkommen von Paris bis zum Green Deal der EU-Kommission Umweltbelange, die bis vor kurzem noch herablassend belächelt wurden, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die neu entdeckte Rolle des Staates und das aufkommende Umweltbewusstsein werden in Jacksons neuem Buch zwar nicht ausführlich diskutiert, doch sind sie der Hintergrund, vor dem es zu lesen ist.

Das gute Leben

Getreu seiner Idee des ‘Postwachstums’ (der englische Originaltitel ist Post Growth) verfasst Jackson auch kein völlig neues Buch, das sich in die Reihe der anderen einreiht, die in ohnehin überfüllten Regalen verstauben. Vielmehr vertieft, konkretisiert und erweitert er Gedanken, die bereits seine früheren Werke prägen. Wie wollen wir leben ist ein nächster Schritt, nicht unbedingt weg von der Ökonomie, aber sicherlich hin zu einer Vielzahl anderer Disziplinen: von der Medizin über Psychologie, Soziologie und Anthropologie bis hin zur Philosophie.

In diesem Licht ist der Titel der deutschen Übersetzung mit Bedacht gewählt: Es ist ein Buch über das Leben, über das gute Leben, und darüber, wie der ‘Mythos vom Wachstum’ – so der Titel des ersten Kapitels – uns von dem, was im Leben wirklich zählt, weg, und schliesslich in die Irre geführt hat.

Ist ein Großteil des Buches der Dekonstruktion des anthropologischen Irrsinns einer Wirtschaft gewidmet, die dem Profit und nicht den Menschen dient, ihrem Lebensunterhalt und letztlich ihrem Lebenssinn.

Aber sind Philosophen diejenigen, an die man sich wendet, wenn die Wunden einer Wirtschaftskrise noch offen liegen sind, wenn eine Gesundheitskrise gerade mit unbekannter Vehemenz zugeschlagen hat, und eine weitere, in all ihren Konsequenzen noch unvorstellbare ökologische Krise am Horizont auftaucht?

Jackson folgend zumindest sind diejenigen, bei denen wir in den letzten Jahrzehnten Rat gesucht haben – Mainstream-Ökonomen –, genau diejenigen, die uns in den gegenwärtigen Schlammassel sich überlagernder Krisen geritten haben. Im zweiten Kapitel zitiert er den Standartenträger des Neoliberalismus (und, nicht zu vergessen, Träger des Wirtschaftsnobelpreises!) Milton Friedmans mit seinem berüchtigten Bonmot, ‘the business of business is business’, (In der Übersetzung ‘beim Geschäft geht es allein ums Geschäft’). Darauf antwortend ist ein Großteil des Buches der Dekonstruktion des anthropologischen Irrsinns einer Wirtschaft gewidmet, die dem Profit und nicht den Menschen dient, ihrem Lebensunterhalt und letztlich ihrem Lebenssinn.

Die Grenzen des Wachstums

Der Untertitel der Originalausgaben – Life after Capitalism – führt den Namen des allumfassenden Systems ein. Doch diese stößt auf ein weiteres Problem: die Grenzen dessen, was der Planet Erde überhaupt verkraften kann, das, was der Club of Rome schon 1972 ‘die Grenzen des Wachstums‘ nannte.

Kapitalismus braucht Wachstum. Um das Rad am Laufen zu halten, muss er in ständig neue Gebiete vordringen, und alles, was er auf seinem Weg findet, in die Warenlogik überführen. Jackson folgt hier, mit einer Prise Skepsis, Rosa Luxemburgs Marx-Kritik. Der Anspruch des Kapitalismus auf sozialen Fortschritt hängt von hohen Wachstumsraten ab, um die Umverteilung von Reichtum zu finanzieren. Darum muss sich das Rad immer schneller drehen. Aber, wie Jackson schreibt, ‘die hohen Wachstumsraten der 1960er Jahre [waren] überhaupt nur vor dem Hintergrund eines gigantischen und zutiefst zerstörerischen Abbaus schmutziger fossiler Brennstoffe möglich, ein Vorgehen, das man sich […] in der Ära des gefährlichen Klimawandels nicht mehr leisten kann’. Daraus ergibt sich das Dilemma: Entweder hört das Wachstum auf, sein ohnehin kärgliches Versprechen vom Wohlstand für alle zu erfüllen, oder es zerstört den Planeten. Oder beides.

Jackson bezweifelt, dass Ökonomen uns aus der Sackgasse führen können. Er karikiert nur leicht, wenn er schreibt: ihre Botschaft ist, ‘dass nur Wachstum uns aus der Patsche holen kann, in die uns das Wachstum gebracht hat’ – aber diesmal ein ‘grünes Wachstum’, bei dem technologische Innovationen es uns ermöglichen uns von der Umweltzerstörung ‘abzukoppeln’.

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Die grüne Wachstums-Hybris

Während Jackson nicht bestreitet, dass die Zerstörungsintensität einer gegebenen Wirtschaftsleistung gesenkt werden kann, erinnert er doch daran, dass der Planet sich nicht um die relative Effizienz kümmert. Was zählt, ist der gesamte CO2-Fußabdruck der Menschheit. Die Gleichung ist einfach: Wenn das BIP schneller wächst als die Emissionen pro gegebener Einheit Output sinken, dann steigen die Gesamtemissionen trotzdem weiter an. Diesem Problem mit Technologie beikommen zu wollen bedeutet, darauf zu wetten, dass die technologische Effizienz schneller als die Wirtschaft wächst, in einem höheren Tempo als je in der Vergangenheit, und dass sie das auch bis in die absehbare (und unabsehbare) Zukunft tun wird.

Jackson ruft zu ‘ökologischen Investitionen’ auf, bleibt aber eine eingehende Diskussion der Möglichkeit eines ‘anderen Wachstums’ schuldig – eines, das von Gesundheit, Bildung, Kultur und Gemeinsinn getragen wird und nicht von der unendlichen Spirale der Produktion materieller Konsumgüter. Dennoch ist Jacksons Gleichung der Maßstab, an dem zum Klimapolitik wie der Green Deal der EU – der als ‘Wachstumsstrategie’ verkauft wird und im Wesentlichen auf grüne Technologie setzt – gemessen werden muss. Ebenso, wenn sich zum Beispiel die Klimapolitik der FDP fokalisiert auf den ‘Anspruch, Technologieweltmeister zu sein.’

‘Grünes Wachstum’ als eine ähnlich verrannte Hybris wie die prinzipiellen Weigerung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, so etwas wie Grenzen des Wachstums überhaupt in Betracht zu ziehen.

Es ist kaum überraschend, dass viele neuere Daten Jacksons Argumentation bestätigen: um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, müssen alle zwei Jahre weltweit die CO2-Ausstösse in ähnlichem Umfang gesenkt werden, wie durch den ersten Lockdown 2020. Doch passiert genau das Gegenteil: Trotz aller Reduktionsziele bläst allein Deutschland in diesem Jahr (2021) voraussichtlich 47 Millionen Tonnen mehr CO2 die Luft als 2020. Folgerichtig entpuppt sich ‘grünes Wachstum’ als eine ähnlich verrannte Hybris wie die prinzipiellen Weigerung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, so etwas wie Grenzen des Wachstums überhaupt in Betracht zu ziehen.

Zombie-Kapitalismus

Das Kapitel zum Gesamtwirtschaftssystem fragt – vielleicht etwas voreilig: ‘Wer hat den Kapitalismus auf dem Gewissen?’. Und verkürzt ist Jacksons Antwort: der Kapitalismus selbst. Besessen vom Wachstum habe er sich selbst das Grab geschaufelt. Der entfesselte Neoliberalismus, unbeirrt von Zweck, Grenzen und Regeln, hat uns an den Rand einer sozialen und ökologischen Katastrophe getrieben. Hier folgt Jackson dem Soziologen Wolfgang Streeck, der argumentiert, dass der Kapitalismus, soweit er überhaupt noch existiert, ein Zombie ist. Die Freude allerdings mag zu früh kommen, denn ganz gleich ob noch im Grab, oder schon daraus emporgestiegen: auch mit leerem Blick dahinstolpernd hat der Kapitalismus auch weiterhin den Planeten erstaunlich fest in seiner halbverwesten Pranke.

Und läuft Wie wollen wie leben zur Hochform auf: Wenn der Kapitalismus und seine Wachstumssucht ‘nur’ den Planeten mit ins Grab reissen würde, wäre das schlimm genug. Geradezu schwindelerregend wird es aber, wenn der Kapitalismus dabei seinen ursprünglichen Zweck völlig verfehlt: das grösstmögliche allgemein Glück zu schaffen.

Unglücksjäger

In Zeiten der Knappheit ist ‘mehr’ eine gute Antwort. In Zeiten des Überflusses aber wird genau dieses ‘mehr’ schnell zum Katastrophenrezept. Staaten streben nach BIP-Wachstum, basierend ‘auf der Annahme, dass Geld ein guter Indikator für Glück ist’. Doch büsst die Feststellung des Volksmunds, dass ‘Geld kein Glück kaufen kann’ – die trotz ihrer augenscheinlichen Naivität kaum an Wahrheit ein: Jackson zitiert einen beeindruckenden Apparat psychologischer, soziologischer und auch ökonomischer Forschung, die belegt, dass nur unter einigen wenigen, genau definierten, Umständen BIP-Wachstum zu einem Anstieg des Glücks führt. Mehr noch: anhand einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen zeichnet er nach, wie der Kapitalismus strukturell Unglück erzeugt. Sei es nur, wie zum Beispiel die Lebensmittelindustrie die angeborene menschliche Dopamin-Reaktion auf Zucker und Fett für ihre Verkaufsinteressen nutzt – das Resultat: eine Welt, in der ‘mehr Menschen an Fettleibigkeit sterben als an Unterernährung’.

Jackson spürt nach, wie der Kapitalismus strukturell Unglück schafft.

Minutiös belegt Jackson, wie in Gesellschaften das Glücksgefühl parallel mit der Gleichheit zu- und abnimmt. Die Schließung der Gleichheitslücke sollte daher sein, was Gesellschaften anstreben – gerade auch aus utilitaristischen Gründen. Aber der Kapitalismus macht uns nicht nur fett, schlaflos, ausgebrannt, konsumsüchtig, einsam, ungesund und zunehmend unfähig, uns zu konzentrieren. Er trifft auch genau das, was die meisten Menschen mit der Wirtschaft verbindet: Arbeit und die Verbindung zu dem, was produziert wird.

Bullshit-Jobs

Über weite Strecken folgt Jackson Hannah Arendt, die in Vita Activa schrieb, dass ‘es kein dauerhaftes Glück außerhalb des vorgeschriebenen Zyklus von schmerzhafter Erschöpfung und genussvoller Regeneration gibt. Was immer diesen Zyklus aus dem Gleichgewicht bringt (Elend ebenso wie großes Glück!), ruiniert das elementare Glück, das aus dem Lebendigsein kommt.’ Arendts Unterscheidung zwischen ‘Arbeit’ (sehr verkürzt die kontinuierliche Aktivität, die notwendig ist, um unseren biologischen Unterhalt zu sichern), ‘Herstellen’ (die Schaffung dauerhafter menschlicher Gegenstände) und ‘Handeln’ (unsere soziale Rolle) verweist auf ein anthropologisches Bedürfnis nach physischer Arbeit, nach einer Einwirkung auf die Welt der Dinge und der Menschen.

Der Kapitalismus jedoch verunglimpft die Arbeit, untergräbt das Handwerk und die Kreativität und vernichtet den Wert, der Gegenständen innewohnt, die lange halten. Er muss verkaufen, immer mehr, und kann daher gar nicht anders, als Werten wie Langlebigkeit entgegenzustehen. Wie Jackson anführt, besteht der enorme Erfolg der Werbeindustrie darin, ‘dass sie uns einreden konnte, physiologische Bedürfnisse seien die geringste Funktion von Kleidung’.

Wie wollen wir leben kann als Plan gelesen werden, wie man Kants kategorischen Imperativ wieder auf die Füße stellt: wie eine Welt gebaut werden kann, in der gleiche Rechte auf Produktion und Konsum den Planeten nicht ruinieren.

Trotz des abendlichen Applauses für das Personal der Pflegeberufe während der ersten Lockdown-Perioden, haben wir auch weiterhin prekäre, unterbezahlte und un-respektierte Arbeit auf der einen Seite, und auf der anderen das, was der 2020 verstorbene Anthropologe David Graeber ‘Bullshit-Jobs‘ nannte: Jobs, die – trotz oft respektabler Bezahlung –, weder dem Individuum Befriedigung, noch der Gesellschaft Nutzen bringen. (Basierend auf Graebers Analyse fand das britische Meinungsforschungsinstitut YouGov 2019, dass mehr als zwei Drittel der britischen Arbeitnehmer ihre Arbeit als kaum oder gar nicht gesellschaftlich sinnstiftend empfanden.)

Auch die Automatisierung wird uns nicht retten: Statt ein Weg zu sein, den Traum des Ökonomen John Maynard Keynes von der 15-Stunden-Woche zu verwirklichen, ist sie, wie Graeber argumentiert, der eigentliche Grund für die Existenz von ‘Bullshit-Jobs’. Zum einen wird Automatisierung kaum die arbeitsintensiven Tätigkeiten ersetzen, die in der frühen Covid-Zeit als Rückgrat der Gesellschaft anerkannt waren. Der Grund ist simple wirtschaftliche Mathematik: Care-Arbeit generiert nicht genug Profit, um Investitionen anzuziehen – schon gar nicht auf völlig freien Märkten. Doch ohne Investition keine Automatisation.

Und zum anderen – zurück zu Hannah Arendt – erinnert Jackson daran, wie eine exzessive Automatisierung uns die Befriedigung des zutiefst menschlichen Möglichkeit beraubt, die Welt mit unseren eigenen Händen zu ergreifen, begreifen und zu verändern.

Kant vom Kopf auf die Füße stellen

Immanuel Kants kategorischer Imperativs forderte die Menschen auf, nur nach Prinzipien zu handeln, von denen sie vernünftigerweise wollen können, dass sie ‘allgemeines Gesetz’ werden. Heute, so der Soziologe Stephan Lessenich in Neben uns die Sintflut, hat der Kapitalismus diesen Imperativ auf den Kopf gestellt: Die industrialisierten Gesellschaften leben und konsumieren in einer Weise, von der sie nur hoffen kann, dass sie nicht universell werde. Würde sie es, wäre der Zusammenbruch der Lebensgrundlagen der Erde endgültig vorprogrammiert.

Wie wollen wir leben kann als Plan gelesen werden, wie man Kants kategorischen Imperativ wieder auf die Füße stellt: wie eine Welt gebaut werden kann, in der gleiche Rechte auf Produktion und Konsum den Planeten nicht ruinieren, und wie die Wirtschaft einer breiteren Reflexion über ihren gesellschaftlichen Zweck nachgeordnet wird.

‘Staatliche Intervention’ mag kein Schimpfwort mehr sein, aber wirtschaftliche Anreize zum Ankurbeln des Wachstums und zur Umverteilung des Wohlstands werden keinen sozialen Fortschritt bringen, wenn sie nicht mit einer Reflexion über Arbeit, und ihren Platz in der Gesellschaft gepaart werden. Die Gesellschaft beginnt, die ökologische Herausforderung zu verstehen, aber eine Ökologisierung der Wirtschaft wird nicht ausreichen, wenn die derzeitigen Konsummuster fortbestehen. In diesem Punkt zeigt Wie wollen wir leben einen Weg auf, indem es die keynesianische Ökonomie in die Grenzen dessen stellt, was der Planet verkraften kann.

Der Neoliberalismus mag einen Schlag erlitten haben, aber als Zombie, oder bereits als Genesender, steht er immer noch im Ring. Ein Umweltbewusstsein mag sich durchsetzen, aber noch längst kein Bewusstsein der Tragweite des Problems. Vor diesem Hintergrund sind radikale Fragen, radikale Antworten und radikale Politik eine historische Verantwortung gegenüber den Menschen und dem Planeten. Jackson im Lichte von Lessenich gelesen: Der kategorische Imperativ steht gegen den Wachstumsimperativ!