Um die wachsende Anti-Establishment-Stimmung in Europa zur Stärkung der emanzipatorischen Politik zu nutzen, müssen sich die Linken mit der Zukunft des Kapitalismus auseinandersetzen und die Kluft zwischen der weiteren wirtschaftlichen Integration und der Zukunft der Demokratie in Europa überbrücken. Als ersten Schritt müssen wir unsere Analysebedingungen neu definieren, damit wir das ganze Ausmaß der Unmutsbekundungen in Europa verstehen können.

Laut den meisten Analysen vollzieht sich in Europa derzeit ein deutlicher Rechtsruck. Bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich beispielsweise erhielt Alexander Van der Bellen, Kandidat der Grünen, bei insgesamt 4,64 Millionen abgegebenen Stimmen nur 31.000 Stimmen mehr als der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer. In mehreren westeuropäischen Ländern haben Parteien der extremen Rechten eine Wahlunterstützung von mehr als 10 Prozent erreicht, während sich die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) bei 35 Prozent, die Schweizerische Volkspartei bei 29 Prozent und Parteien der extremen Rechten in Dänemark und Ungarn bei je 21 Prozent halten. Berücksichtigt man darüber hinaus noch die aktuellen nationalistisch-konservativen Regierungen in Polen und Kroatien, könnte man schon fast von einer Wende hin zu illiberaler Politik sprechen. Neben der rückläufigen Wahlbeteiligung, der immer stärkeren Volatilität bei den Wahlen, der schwindenden Loyalität gegenüber Parteien und dem sinkenden Vertrauen in politische Institutionen [1] lässt sich beobachten, dass sich immer mehr Bürger nationalistischen, fremdenfeindlichen und autoritären Parteien zuwenden.

Im Unterschied zu häufigen Erklärungsansätzen, die die Ursache für diesen Trend in der zunehmenden Islamfeindlichkeit, dem wachsenden Euroskeptizismus oder ähnlichen aus Meinungsumfragen abgeleiteten Begründungen sehen, schlagen wir eine klassische politisch-wirtschaftliche Analyse vor. Auf diese Weise überwinden wir die künstliche Unterscheidung zwischen Wirtschaft und Politik und können die aktuellen Geschehnisse in Europa richtig einordnen. Hierfür müssen wir den Begriff der illiberalen Demokratie, ein konzeptuelles Hindernis für progressive Politik, über Bord werfen. Denn indem wir die aktuelle Krise als den Aufstieg illiberaler Demokratie abstempeln, verschließen wir uns möglichen Erklärungen und Lösungen.

Das Hauptproblem in Bezug auf das Konzept der illiberalen Demokratie ist, dass dieses sich ausschließlich auf die politische Domäne bezieht: „Demokratie“ als politisches Regime mit freien und fairen Wahlen und „Illiberalismus“ als Schlagwort für den Aufstieg autoritärer, fremdenfeindlicher und nationalistischer politischer Plattformen. Doch schon ein kurzer Blick auf das Konzept der liberalen Demokratie (das beispielsweise vom viel zitierten Journalisten Fareed Zakaria verwendet wird [2]) zeigt, dass „liberal“ sich auf die Rechtsstaatlichkeit bezieht und nicht nur mit dem Schutz der bürgerlichen Freiheiten in Zusammenhang steht, sondern auch mit Eigentumsrechten und der zugrunde liegenden Klassenpolitik. Bereits seit den Anfängen des Liberalismus wurden Kapitalismus und Demokratie als gegenläufige Bewegungen dargestellt. Dies spiegelt sich in der Sorge wider, dass politische Systeme, in denen Macht und Regierung vom Volk ausgehen, das Ende des Kapitalismus bedeuten [3]. Und genau hier setzt das Konzept der illiberalen Demokratie an.

Autoritärer Kapitalismus

Ein weiteres Problem mit diesem Konzept besteht darin, dass es progressive Alternativen zum Status quo verhindert. Solange wir in dieser Dichotomie von „liberal“ und „illiberal“ gefangen sind, bleibt uns lediglich die Wahl zwischen dem Status quo auf der einen Seite und noch ungünstigeren Bedingungen auf der anderen Seite. Der hegemoniale Status des wirtschaftlichen Liberalismus wird dadurch ausgeklammert. Das von Dani Rodrik entwickelte Trilemma hilft dabei, diese Problematik zu verstehen. Es besagt, dass globaler Kapitalismus, Nationalstaaten und Demokratie miteinander unvereinbar sind. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben demokratische Regierungen mittels nationaler Rechtsrahmen versucht, dem Kapitalismus Einhalt zu gebieten. Seither ist die globale wirtschaftliche Integration die treibende Kraft hinter dem gesellschaftlichen Wandel. Wenn wir der Einschätzung von Dani Rodrik folgen, müssen entweder Nationalstaaten oder die Demokratie weichen. Warum? Um die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des globalen Kapitalismus auf demokratische Weise (also im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung) zu begrenzen, ist eine globale Ordnungspolitik vonnöten. Diese bleibt jedoch weiterhin eine Utopie. Die einzige andere Möglichkeit ist eine auf autoritärer Basis von Nationalstaaten durchgeführte globale wirtschaftliche Integration. Im Laufe der Zeit würden die nationalen Regierungen immer mehr Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Steuern, Ausgaben und Gesetzgebung einbüßen und so nach und nach ihre demokratische Legitimation und ihre demokratischen Grundsätze verlieren. Somit stellt sich die Frage, ob der aktuelle Trend in Europa nicht vielmehr als Aufstieg des autoritären Kapitalismus anstatt als illiberale Demokratie bezeichnet werden sollte.

Illiberale Demokratie ist ein Begriff, der zwei Phänomene miteinander verbindet, die nicht inhärent in Zusammenhang stehen: die Ablehnung des Neoliberalismus und der Aufstieg des Rechtsextremismus. Die Ursache hierfür liegt darin, dass die Linken nicht in der Lage sind, die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Individuen zu vertreten, die besonders unter der derzeitigen Situation leiden. Nehmen wir als Beispiel erneut die Wahl in Österreich her: Das Wahlergebnis zeigt eine zunehmende Klassenspaltung. Während die elitäre städtische Mittelschicht für Alexander Van der Bellen stimmte, wählten die einkommensschwache ländliche Bevölkerungsgruppe und die Arbeiterklasse Norbert Hofer. Anders ausgedrückt: Seit den 1990er-Jahren, als sie den wirtschaftlichen Liberalismus als politische Philosophie übernahmen, haben die Linken aufgehört, die gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren, denen sie ihre Existenz verdanken.

Der Schweizer Politologe Hanspeter Kriesi [4] argumentiert, dass die politische Neuordnung in Europa der zunehmenden Globalisierung zuzuschreiben ist. Die globale wirtschaftliche Integration, die darauf abzielt, den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zu gewährleisten, verschärft den wirtschaftlichen Wettbewerb in Bezug auf Beschäftigung und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber hinaus zeigt sich aufgrund der Immigration auch eine verstärkte kulturelle Diversifizierung. Kurzum: Die globale wirtschaftliche Integration führt zu einer neuen Interessenartikulation und einer politischen Neuordnung und bringt neue Verfechter und Gegner der wirtschaftlichen Liberalisierung hervor. Die spezifische Morphologie der Liberalisierungsgegner variiert je nach nationalen Gegebenheiten. Im Allgemeinen lässt sich jedoch feststellen, dass Individuen und Gruppen, die sich aufgrund mangelnder Bildung, Fähigkeiten oder anderer Einschränkungen nur schwer an gesellschaftliche Veränderungen anpassen, sich viel eher der wirtschaftlichen Liberalisierung widersetzen.

Wie Zygmunt Bauman [5] sagte, wird unsere heutige flüchtige Welt von „Touristen“ und „Vagabunden“ bewohnt. Während Erstere durch die Welt reisen, geht die Welt an der weit größeren Gruppe der Vagabunden vorbei. Im Gegensatz zu Touristen, die aus freien Stücken unterwegs sind, sind Vagabunden entwurzelt und haben kein Zuhause. Der Gruppe mit Zugang zu den wichtigsten Ressourcen – Informationen, Netzwerke, Wissen, Geld – liegt die ganze Welt zu Füßen, während die mittellose Gruppe je nach ihrer aktuellen Relevanz für globale Kapitalnetzwerke und Märkte aus- oder eingeblendet wird.

Das zentrale Problem besteht heute darin, dass der zum Ausdruck gebrachte Unmut von der Rechten ausgenutzt wird, um bestimmte Gesellschaftsgruppen auszugrenzen und durch die Verunglimpfung anderer ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Beispiele hierfür sind die Anti-Einwanderungspolitik und die Islamfeindlichkeit in Westeuropa oder der Euroskeptizismus, die Anti-LGBT-Stimmung und die sozial-konservativen Programme in Osteuropa. Der gemeinsame Nenner für das Wiedererstarken der Rechten in ganz Europa ist die politische Artikulierung der Forderung der Bürger nach Schutz, Sicherheit und Zugehörigkeit. Fazit: Die Ursache des zunehmenden Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit unter der Arbeiterklasse ist in dem durch den Kapitalismus verursachten gesellschaftlichen Zorn und Frust sowie in der Entfremdung der Linksparteien zu suchen, die jahrzehntelang die elitären Interessen der „Touristen“ vertreten und die „Vagabunden“ vernachlässigt haben.

Das Projekt für die Europäischen Linken

Wenn wir das Problem als Widerstand gegen die weitere Kommodifizierung erkennen, anstatt die Ursachen im Kulturalismus zu suchen, können wir die aktuelle politische Entwicklung neu einordnen: und zwar nicht als Aufstieg der Rechten, sondern vielmehr als Ablehnung des politischen Establishments. Laut einer Studie zu weltweiten Protesten aus dem Jahr 2013 ist der Unmut im Wesentlichen auf einen Mangel an „echter Demokratie“ zurückzuführen [6]. Obwohl der zunehmende Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit natürlich Grund zur Sorge sind, sollten wir uns bewusst machen, dass die aktuelle Entwicklung vielmehr eine europaweite Ablehnung des politischen Establishments darstellt. Belege hierfür sind die zunehmenden Proteste, der große Zulauf zu neuen sozialen Bewegungen und die Neuartikulierung der Linken, z. B. in Griechenland, Spanien und Portugal. Doch auch auf europäischer Ebene ist diese Entwicklung spürbar: So zielt die Initiative DiEM25 beispielsweise auf die Redemokratisierung der Europäischen Union sowie die Rückgewinnung staatlicher Kompetenzen von der Troika ab.

Aktuell wird diese Anti-Establishment-Stimmung effektiver durch die extreme Rechte ausgenutzt. Die wichtigste Aufgabe für die progressive Politik in Europa besteht darin, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Um die wachsende Anti-Establishment-Stimmung in Europa zur Stärkung der emanzipatorischen Politik zu nutzen, müssen sich die Linken mit der Zukunft des Kapitalismus auseinandersetzen und die Kluft zwischen der weiteren wirtschaftlichen Integration und der Zukunft der Demokratie in Europa überbrücken. Hierfür sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass die heutigen Demokratien, an denen wir um jeden Preis festhalten wollen, das Ergebnis der unermüdlichen Bestrebungen von Arbeiterbewegungen und sozialistischen Parteien nach universellem Wahlrecht, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechten sind.

Obwohl es in den Geschichtsbüchern festgehalten ist, vergessen wir häufig, dass die sozialistischen Parteien eine wesentliche Rolle spielten, um der Demokratie ihre jetzige Form zu verleihen.

Anstatt zuzusehen, wie sich der Zorn der Bevölkerung in nationalistischen Bewegungen entlädt, müssen die Linken wieder verstärkt egalitäre Prinzipien verfechten. Eine der Nebenwirkungen der Hegemonie der liberalen Demokratie besteht darin, dass das Konzept des Egalitarismus zu einem reinen Kompensationsmechanismus degradiert wird. Der Egalitarismus ist ein ambitioniertes politisches Projekt, das darauf abzielt, eine Gesellschaft zu schaffen, die von Gleichberechtigung geprägt ist [7]. Dies erfordert sowohl einen Kampf gegen die Ungerechtigkeit des Klassensystems als auch gegen die ungleiche Behandlung je nach Sozialstatus [8]. Forderungen nach Anerkennung in der Form des Status als Bürger – anstelle des Status als Immigranten – stellen eine Forderung nach Gerechtigkeit dar. Doch der Aufruf zur Solidarität der Linken wird auf taube Ohren stoßen, wenn es ihnen nicht gelingt, die Klassenspaltung zu überbrücken. Nur wenn wir die Interessen der „Vagabunden“ berücksichtigen, besteht Hoffnung, dass der aktuelle Trend hin zum autoritären Kapitalismus gestoppt und eine Erneuerung der Demokratie eingeleitet werden kann.

[1] Mair, Peter, „Ruling the Void“, London: Verso, 2014.

[2] Zakaria, Fareed, „The Rise of Illiberal Democracy“. In: Foreign Affairs, Nov./Dez. 1997.

[3]Streeck, Wolfgang, „The Crisis of Democratic Capitalism“. In: New Left Review 71, Sept./Okt. 2011.

[4] Kriesi, Hanspeter, et al., „Globalization and the transformation of the national political space: Six European countries compared“. In: European Journal of Political Research 45: 921–956, 2006.

[5] Bauman, Zygmunt, „Globalisation. The Human Consequences“, Cambridge: Polity Press, 1998.

[6] Ortiz et al., „World Protests 2006-2013“. Initiative for Policy Dialogue, Columbia University, New York and Friedrich Ebert Stiftung New York Office, 2013.

[7] Anderson, Elisabeth, „What is the Point of Equality?“. In: Ethics 102, 2, 1999.

[8] Fraser, Nancy, „Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition and Participation“. In: N. Fraser, A. Honneth (Hg.), „Redistribution or Recognition: A Political-Philosophical Exchange“, London: Verso, 2003.