Die Welt ist im Umbruch. Eine lange Phase der Dominanz Nordamerikas und Westeuropas nähert sich ihrem Ende. Und gleichzeitig stehen wir vor einer großen Transformation, einem gesellschaftlichen Übergang zu einem anderen Energiesystem. Noch sind die Konturen dieser neuen Welt nicht absehbar. Fest steht nur, dass die Erfahrungen vergangener Jahrhunderte zwar Lehren und Einsichten bereithalten, nicht aber den Weg in ein nachhaltiges 21. Jahrhundert weisen können. Der vierte Wahlsieg der brasilianischen Arbeiterpartei PT bei den Präsidentschaftswahlen Ende Oktober bietet den Anlass, über ungenutzte Potenziale in der Beziehung Brasiliens zu Europa nachzudenken.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Einstellung europäischer Medien gegenüber Brasilien mehrfach gewandelt. Jahrelang wurde der vorsichtige und konsensorientierte Kurs des früheren Präsidenten Lula als Erfolgsmodell vernünftiger linker Politik gefeiert. Kurz konnte auch seine Nachfolgerin Dilma Rousseff auf der Welle internationaler Sympathie surfen. Doch in den letzten Jahren schlug die Stimmung um. Die von der Arbeiterpartei PT geführte Koalitionsregierung sah sich Kritik von allen Seiten ausgesetzt: Für die einen war sie zu wenig wirtschaftsfreundlich. Vor allem die verstärkte staatliche Kontrolle der Bodenschätze, allen voran des Öls, führte zu systematischer Kritik der internationalen Wirtschaftspresse. Mexiko, das sein Öl privatisiert, galt demgegenüber als pragmatisches Erfolgsmodell. Der Economist sprach sogar offen eine Wahlempfehlung für den Oppositionskandidaten Aécio Neves aus. Für die anderen hat die Arbeiterpartei in der Regierung zu viele ihrer Prinzipien über Bord geworfen und sich den anderen Parteien und den großen Kapitalinteressen angepasst: von Großprojekten wie Belo Monte und der FIFA-WM bis zu Bündnissen mit dem Agrobusiness.

Herrenhaus und Sklavenhütte

Brasilien ist nicht die größte und wichtigste unter den aufstrebenden Nationen, die gegenwärtig die Vormachtstellung des nordatlantischen „Westens“ herausfordern. Aber aufgrund seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen und den im Gang befindlichen wohlfahrtsstaatlichen Reformen wäre es das geeignete Land für eine strategische Partnerschaft mit Europa. Da ist zum einen die kulturelle Nähe zu einem Kontinent, in dem sich vielfältige, aber ganz wesentlich auch europäische Einflüsse vermischen. Kultur, Sprache, Religion, Rechtssystem und Verfassung sind wesentlich durch Europa geprägt. Zum anderen ist Europa verantwortlich für Kolonialismus und Sklaverei. Aber auch das offizielle Brasilien steht selbstbewusster zu seinen afrikanischen Wurzeln und stellt sich auch seiner Verantwortung als Empfängerland von Millionen afrikanischen Sklavinnen und Sklaven.

In der Sklavenhaltergesellschaft, die in Brasilien offiziell erst 1888 endete und in den Köpfen der Mittel- und Oberschicht teilweise bis heute fortbesteht, standen Herrenhaus und Sklavenhütten zwar nebeneinander; die soziale Hierarchie war aber umso deutlicher. Diese Sklavenhaltermentalität lebt in der Dienstbotengesellschaft weiter. Bis heute gibt es über sechs Millionen Dienstbotinnen, die seit kurzem aber über sozialrechtliche Absicherung verfügen und Anrecht auf einen Mindestlohn haben. Dies hat nicht nur die Lebenshaltungskosten der traditionellen Mittelschicht erhöht, sondern auch deren Selbstwertgefühl erschüttert. Obwohl es auch der Mittelschicht heute besser geht als vor 15 Jahren, haben sich ihre Statusängste dramatisch erhöht. Auf Flughäfen und an Universitäten tummeln sich Aufsteiger/innen, eine neue Mittelschicht macht der alten Konkurrenz. Die tiefsitzende Ablehnung der Arbeiterpartei PT, die für diesen Aufstieg verantwortlich ist, hat hierin eine wesentliche Ursache. Das Entstehen einer Mittelschichtsgesellschaft wirkt auf die traditionelle Mittelschicht bedrohlich. Wie im Europa der 1920er und 1930er Jahren macht dies anfällig für autoritäre und rassistische Politiken. Aber wenn Brasilien wirklich eine Mittelschichtsgesellschaft werden soll, dann wird diese Mittelschicht nicht länger ausschließlich von Weißen repräsentiert.

Wohlfahrtsstaatlich wie im 20. Jahrhundert

Wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in Europa weitreichende zivilisatorische Fortschritte in die Wege leiteten, so findet in Brasilien heute ein ähnlicher Prozess statt: Aus Marginalisierten werden Bürger/innen. Brasilien hat im September auf der UN-Vollversammlung stolz verkündigt, das Problem des Hungers zumindest in seiner brutalsten Form bewältigt zu haben. In den letzten Jahren wurden sozialstaatliche Strukturen aufgebaut, eine neue Mittelschicht ist im Entstehen begriffen. Im von der Welternährungsorganisation FAO herausgegebenen The State of Food Insecurity in the World-Report und dem Weltentwicklungsbericht 2014 des UNDP finden sich eine Vielzahl positiver Verweise auf sozialstaatliche Initiativen, die kaum Erwähnung in den Medien finden: Die Armut fiel von 24,3% (2001) auf 8,4% (2012), 22,1 Millionen sind zumindest nicht mehr extrem arm. Der Anteil der Unterernährten fiel von 10,7% (2000-02) auf weniger als 5% (2004–06). Von 2001 bis 2013 stieg das Einkommen des ärmsten Bevölkerungsfünftels dreimal so rasch wie dasjenige des reichsten Fünftels. 43 Millionen Kinder bekommen eine Schuljause, wobei ein Großteil der Nahrungsmittel von der familiären Landwirtschaft bereitgestellt wird. Allein seit 2009 wurden 1,6 Millionen Sozialwohnungen gebaut, und die Arbeitslosigkeit ist unter sieben Prozent gesunken.

Doch diese Erfolge bleiben gleichzeitig einem naiven Fortschrittsdenken verhaftet, wie wir es aus der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts kennen: Großbauten, Technikgläubigkeit, Wachstum und Naturausbeutung um jeden Preis. So gibt es unter sozialen Bewegungen und Umweltschützer/innen herbe Kritik am neoextraktivistischen Entwicklungsmodell, der Packelei im Kongress, dem Bündnis mit der Agrar- und Autolobby und der für nachhaltige Stadtentwicklung desaströsen Dominanz von Immobilieninteressen. Das kurzfristige Umfragehoch der letztlich gescheiterten Marina Silva war Indiz für eine tief sitzende Unzufriedenheit mit den Regierenden. Dabei vermischen sich Verärgerung über Korruption und Ressentiments gegen den sozialen Aufstieg der Armen mit dem Wunsch nach funktionierenden öffentlichen Institutionen – seien dies Spitäler, Schulen oder öffentliche Verkehrsmittel. Deren Qualität lässt nämlich weiterhin zu wünschen übrig. So verbringen viele regelmäßig Stunden im Stau oder warten „ewig“ in Spitälern. Vor allem aber führen die höheren Bildungsabschlüsse nicht automatisch zu besser bezahlten Beschäftigungen. Die gläserne Decke am Arbeitsmarkt frustriert die neue Mittelschicht.

Eine soziale und ökologische Transformation im 21. Jahrhundert

Brasilien ist also – wie Europa – ein Raum der Diversität, durchtränkt von einer Geschichte voller Widersprüche. Es ist zerrissen zwischen einer von Ungleichheit, Rassismus und Autoritarismus geprägten Vergangenheit und dem in der brasilianischen Lebensfreude spürbaren Potenzial, Modell für eine bunte, vielfältige und gerechte Gesellschaft zu werden. Ob der Balanceakt gelingt, wird die Zukunft zeigen. Was aber feststeht: In keinem anderen BRICS-Staat ging der ökonomische Aufstieg mit einer Vertiefung von demokratischen, sozial- und rechtsstaatlichen Institutionen einher. Nur in Brasilien reduzierte sich die Ungleichheit. Die Medien sind insbesondere in China und Russland auf Regierungslinie. Wenn Korruption bekämpft wird, dann zumeist um Regierungskritiker auszuschalten. Anders in Brasilien: Im Vergleich zu ihren BRICS-Kollegen sind Dilma Rousseffs Macht enge Grenzen gesetzt. Noch nie konnte die Justiz so frei ermitteln wie heute, weshalb es so viele Korruptionsvorwürfe gibt wie noch nie. Die Macht der Regierung ist nämlich durch Kongress und Justiz einerseits, durch eine lebendige Zivilgesellschaft und regierungskritische kommerzielle Medien andererseits deutlich eingeschränkt.

Europa verbindet aber nicht nur die Vergangenheit mit Brasilien. Die brasilianischen Entwicklungen der letzten Jahre haben viele Ähnlichkeiten mit der sozialstaatlichen Zähmung des europäischen Kapitalismus im Laufe des 20. Jahrhunderts. Eine Zähmung, die Tony Judt am Ende seines Lebens in Ill Fares the Land als großen zivilisatorischen Fortschritt hin zu einer inklusiven und gerechten Gesellschaft gefeiert hat. Und dies zu einer Zeit, in der diese Erinnerung zu verblassen droht und Zentralbankchef Draghi und selbst die niederländische Regierung das Ende des europäischen Sozialstaats gekommen sehen. Es ist kein Zufall, dass die fehlende Wertschätzung der Errungenschaften des 20. Jahrhunderts mit der drohenden Rückkehr von Sozialstrukturen des 19. Jahrhunderts zusammenfällt. Thomas Piketty, Erfolgsautor von Capital in the 21st Century, sieht die Gefahr einer erneuten Polarisierung von Vermögen und Einkommen. Lebenschancen werden auch in Europa wieder stärker vererbt, sozialer Aufstieg wie im 20. Jahrhundert wird seltener. Diese sozialstaatlichen Rückschritte – vor allem, aber nicht nur im Süden Europas – müssen mit Sorge beobachtet werden.

Armut und Hunger in Europa

Was sagt es über die europäische Wertegemeinschaft aus, dass die Rückkehr von Hunger und Armut kein politischer Skandal ist? 10 Millionen mehr Armutsgefährdete sind – noch – keinen Politikschwenk hin zu tatkräftigen Initiativen für sozialen Zusammenhalt wert. Hier liefert die brasilianische Entwicklung einen Beweis: Auch in Zeiten der Globalisierung wäre eine Politik des sozialen Zusammenhalts möglich und mit wirtschaftlichen Erfolgen vereinbar – wenn dies politisch gewollt ist. Untergraben wir hingegen in Europa die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen, ist auch ein Rückfall in brutale und autoritäre Verteilungskämpfe wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ausgeschlossen. Und eine ökologische Transformation wird bei verstärkten Verteilungskämpfen kaum zu verwirklichen sein. Es sind also nicht alle Rezepte aus dem 20. Jahrhundert überholt.

Wohl aber ist es kein Entwicklungsmodell für das 21. Jahrhundert, den European Way of Life der Konsumgesellschaft und der autozentrierten Stadt zu kopieren. Die sozialpolitischen Erfolge der PT-Regierungen haben die ökologischen Folgen sozialdemokratischer Politik offensichtlich gemacht: Die Städte ersticken im Verkehrsstau, Infrastrukturprojekte gefährden ökologische Regionalentwicklung und die Existenzgrundlage von indigenen Völkern und Kleinbauern. Hier könnte Brasilien von Europa lernen, hier könnte Brasiliens Sozialdemokratie von grüner Politik lernen. Stadtökologie und Bemühungen zum Aufbau einer sozialökologischen Infrastruktur im Bereich von Mobilität, Energie und Pflege sind wichtige Elemente einer sozialökologischen Transformation, die nachhaltig und gerecht ist. Auf globaler Ebene könnte dies zum Beispiel heißen, dass sich Europas Bewegungen für biologische Landwirtschaft mit der brasilianischen Landlosenbewegung verbünden. Und zwar gegen die von Agrarlobbies auf beiden Erdteilen forcierte Handelsliberalisierung bei fortgesetzter Subventionierung der industriellen Landwirtschaft. Ein weiteres Lernfeld wäre der Umgang mit Dynamiken ungleicher Entwicklung – in Brasilien das Gefälle von Nordosten und Südosten, in Europa zwischen Nordwesteuropa und dem Osten und Süden. Während sich die PT-Regierung für eine Politik des sozialen und territorialen Zusammenhalts entschieden hat, droht in Europa beides unter dem Primat der Austeritätspolitik zu leiden. Desintegration und soziale Verwerfungen werden so zu realen Gefahren.

Partnerschaft für eine friedliche multipolare Welt

Diese Erweiterung sozialer Teilhabemöglichkeiten innerhalb des Landes ging in Brasilien einher mit einer außenpolitischen Positionierung, die der ehemaligen Peripherie der Weltwirtschaft vermehrt Gehör verschaffen will. Eine multipolare Welt soll entstehen. Sozialer Zusammenhalt nach innen und Mitgestaltung in der Welt müssen nicht zusammenpassen; sie tun es gegenwärtig in Brasilien, so wie es in der Blütezeit der europäischen Sozialdemokratie in den 1970er Jahren mit Brandt, Palme und Kreisky der Fall war. Trotz der ähnlichen rechts- und sozialstaatlichen Institutionen wird Brasilien von der EU kaum als Vermittler zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden wahrgenommen. Und dies, obwohl so wichtige Organisationen wie die Welternährungsorganisation FAO und die Welthandelsorganisation WTO heute von Brasilianern geführt werden. Immer noch besteht die Hoffnung, einzelne der BRICS-Staaten separiert an Bord zu holen. Die G8 mit Russland waren so ein – mittlerweile gescheiterter – Versuch. Unter den veränderten globalen Machtverhältnissen wird es in Zukunft aber immer illusorischer, die Welt in Freund und Feind zu teilen.

Die brasilianische Außenpolitik fördert zum einen die regionale Integration in Latein-und insbesondere Südamerika. Es ist Nachbarschaftspolitik: Mercosur als Wirtschaftsraum und Unasur als politisches Integrationsprojekt. Andererseits hat Brasilien seine Bemühungen zum Ausbau der Süd-Süd-Kooperationen verstärkt, wobei hier China als Handelspartner eine besondere Rolle zukommt. Bei den vertieften Beziehungen zu Afrika spielt neben den dominanten ökonomischen und politischen Eigeninteressen auch der kulturelle und wissenschaftliche Austausch eine wichtige Rolle. All dies stärkt die Süd-Süd-Beziehungen und schwächt die hierarchisierten und ungleichen Nord-Süd-Beziehungen.

Bestehende Hierarchien abbauen

Hinzu kommt, dass Brasilien Verletzungen seiner Souveränität sehr ernst nimmt. So hat Präsidentin Rousseff die NSA-Überwachung massiv kritisiert und einen Besuch bei Präsident Obama abgesagt. Schließlich hat Brasilien eine vorsichtige Position gegenüber humanitären Interventionen. Diese sollen sich auf solche militärische Eingriffe beschränken, die durch den UN-Sicherheitsrat und das Völkerrecht abgesichert sind. Die exzessive Auslegung des UNO-Mandats im Libyen-Krieg 2011 hat Brasilien verärgert, so wie die Europäer/innen wenig Verständnis für die Haltung Brasiliens beim Wirtschaftsboykott gegen Russland zeigen. Hier unterscheidet sich die brasilianische Außenpolitik von der europäischen, ebenso wie im pragmatischeren Umgang mit Staaten wie Iran und Kuba. Aber gerade diesbezüglich scheint ein Umdenken im Westen im Gange. Selbst die New York Times würdigte dieser Tage den Beitrag Kubas zur Ebola-Bekämpfung und kritisierte die Halbherzigkeit des Westens. Und die Erosion des irakischen Staats und der Kampf gegen den IS relativieren auch die Einschätzung gegenüber dem „Schurkenstaat“ Iran.

Es ist weder möglich noch anstrebenswert, die unterschiedlichen Einschätzungen geopolitischer Konflikte beizulegen. Gerade auch wegen seiner Verschiedenheit ist Brasilien der geeignete Partner für globale Zusammenarbeit und eine realistische Weltsicht, die Interessenkonflikte anerkennt und zu bearbeiten versucht. Angesichts des Konflikts mit Russland, der komplexen Lage im Nahen Osten und der schwer berechenbaren politischen Führungen in Indien und China wäre es vernünftig, die Achse zwischen der EU und Brasilien zu stärken. Das gemeinsame historische Erbe böte hierzu die Grundlage. Die EU muss ein Interesse an einer friedlichen Weltordnung haben, die den Westen nicht gegenüber erstarkenden Regionalmächten isoliert. Dazu braucht es im Globalen Süden Partner wie Brasilien, die eine rechtsbasierte multipolare Weltordnung anstreben, in der die bestehenden Hierarchien abgebaut werden. Dies als legitimes Anliegen anzuerkennen, könnte dazu beitragen, die ins Stocken geratene internationale Zusammenarbeit wieder zu intensivieren. Abrüstung, Klimawandel, globale Sicherheit und der weltweite Kampf gegen Hunger und Armut sind zu wichtig, um sie geomilitärischen Interessen und Machtstrategien multinationaler Konzerne zu überlassen.