Die Coronavirus-Krise schien die Europäische Union zurück in die schrecklisten Zeiten der Eurozonen-Krise zu katapultieren. Die EU handelte zu wenig, zu spät und war zu sehr auf den guten Willen der mächtigsten Mitgliedstaaten angewiesen. Der wirtschaftliche Schock des Coronavirus und das Fehlen einer europäischen Antwort brachte existenzielle Ängste um die Zukunft der EU zum Vorschein. Doch entgegen aller Widerstände und entgegen der vorherrschenden konservativen Meinung kamen Angela Merkel und Emmanuel Macron letztendlich zusammen, um mit einem ehrgeizigen Vorschlag von 500 Milliarden Euro für einen gemeinsamen europäischen Impuls den Weg für ein Konjunkturprogramm frei zu machen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank vom 5. Mai 2020 schlug wie eine Bombe ein. Neben den währungspolitischen Fachdebatten hat dies auch eine grundlegende politische Debatte ausgelöst: Ist die Europäische Union ein bloßer Zusammenschluss von Staaten, die durch völkerrechtliche Verträge miteinander verbunden sind, aber den dennoch jedes nationale Verfassungsgericht nach Belieben in Frage stellen kann? Oder handelt es sich um eine rechtliche und politische Konstruktion sui generis, deren Ziel der allmähliche Aufbau einer transnationalen politischen Gemeinschaft, sowie einer funktionierenden und legitimen Demokratie ist, mit der möglichen Aussicht auf die Gründung eines Hobbesschen Staates? Genau diese Alternative spaltet die Europäer seit Beginn des europäischen Abenteuers. 2016 hat der Brexit für das Vereinigte Königreich entschieden. In einer Zeit, in der aufeinanderfolgende Krisen das gesamte Bauwerk ins Wanken bringen, stellt sich die Frage mit existentieller Schärfe erneut.

Trotz der Hoffnungen muss zugegeben werden, dass die in den Verträgen geschaffene institutionelle Ordnung nicht die demokratische europäische politische Union der Solidarität hervorgebracht hat, die von Maastricht bis Lissabon versprochen wurde. In der Welt der demokratischen Entscheidungen, an die wir gewöhnt sind, finden die Machtprozesse hauptsächlich zum Zeitpunkt der Wahlen statt, wo die Bürger ihr Urteil an der Wahlurne verkünden und Sanktionen einleiten. Für internationale Institutionen gibt es diesen Moment nicht. Was die Europäische Union anbelangt, so führt diese Mischung aus Technokratie, differenziertem Föderalismus, internationaler Diplomatie, zwischenstaatlichen Institutionen und demokratischen Parlamentswahlen zu einer diffusen Verantwortung, die für Wahl-Sanktionen ungeeignet ist und sich stets der Schuld entziehen kann. Die erste Schwierigkeit eines europäischen Prozesses: Wer würde auf der Anklagebank sitzen? Die Kommission, die theoretisch nur eine Hüterin der Regeln ist? Der Rat, der nur das tut, was die Mitgliedstaaten wollen? Das Parlament, das gern tun würde, was es will? Die Eurogruppe, die nur de facto und nicht de jure existiert? Die EZB, die sich vor niemandem zu verantworten hat?

In Frankreich träumen einige davon, dass diese x-te Krise der Todesstoß für die Europäische Union sein wird, das Ende des süßen föderalistischen Traums, der uns die lang erwartete Gelegenheit bietet, uns von einengenden Verträgen und überholten Dogmen zu befreien, um die Großartigkeit einer vergessenen nationalen Souveränität wiederzuentdecken. Der Prozess lässt sich rechtfertigen, die Alternative aber bleibt unklar. Womit sollten wir diesen versagenden multilateralen Rahmen ersetzen? Die gegenseitigen Abhängigkeiten, welche die gegenwärtige Gesundheitskrise so brutal aufzeigt hat, werden mit einem Rückzug internationaler oder europäischer Institutionen nicht verschwinden. Wie würden souveräne Nationen die sehr realen Probleme der internationalen Koordination und Verwaltung der gegenseitigen Verflechtungen besser lösen können?

Mit den zahlreichen Prozessen, die in Brüssel angestoßen werden, und die vielmehr als Ventil zum Abreagieren dienen, würde man eine einzige offensichtliche Schlussfolgerung erwarten: Den Ausstieg aus der EU. Den Austritt aus den Verträgen, die Aufkündigung der seit 1957 im Rahmen der europäischen Gemeinschaften aufgebauten rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bindungen, und die Verfolgung des vom Vereinigten Königreich vorgezeichneten Weges. Diese Versuchung gibt es und sie gewinnt immer mehr an Bedeutung. Vor allem in Italien. In Frankreich wird sie im Moment nur von einer Minderheit getragen. Liegt es daran, dass der Frexit von einer inkonsequenten extremen Rechten monopolisiert wurde? Liegt es daran, dass der Plan A und der Plan B der Unbeugsamen (La France insoumise) zur Veranlassung ihrer europäischen Strategie in Wirklichkeit das Ergebnis eines zerbrechlichen internen Kompromisses ist? Oder liegt es daran, dass die Franzosen im Grunde noch nicht völlig von der Idee Abstand genommen haben, dass Europa verändert werden kann und dass es möglich ist, sowohl aus dem Verzicht als auch aus der Anprangerung das Beste zu machen, indem man eine neue transnationale Europapolitik verfolgt, die auf der mehrdimensionalen und diffusen Natur der europäischen Macht aufbaut, um ein Programm des radikalen Wandels durchzusetzen?

Das Lösen der „deutschen Frage“

Trotz des Stillstands dieses machtlosen, gespaltenen, durch seine Dogmen eingeschränkten und teilweise von privaten Interessen beherrschten Europas, gibt es einen Weg die Institutionen, die Funktionsweise und die europäischen Politik tiefgreifend zu verändern. Dieser Weg ist mühsam, denn die Macht in Europa ist zerstreut und horizontal. Dies ist der Hauptgrund für die kontinentalen Niederlagen von Emmanuel Macron. Er glaubte zu lange, dass die Politik in Europa ausschließlich im Europäischen Rat entschieden würde, oder dass die Kraft und der Willen eines “großen Landes” genügen, oder hinter den verschlossenen Türen bilateraler Treffen ausgehandelte deutsch-französische Abkommen ausreichen würden, wie wir vor einem Jahr in unserem Essay „Die doppelte europäische Sackgasse“ (La double impasse européenne)[1] ausführlich beschrieben haben.

Die Konsequenz daraus: Wenn der Souverän als derjenige definiert werden soll, der in letzter Instanz entscheidet und in Krisenzeiten bestimmt, dann befindet sich die europäische Souveränität zum größten Teil in Berlin und nicht in Paris oder Brüssel.

Dabei muss sich die Diagnose der Blockaden in Europa auf eine gründliche Analyse des deutschen Riegels und Sonderweges stützen, die das jüngste Gerichtsurteil herausstellt. Denn in einer Post-Brexit-EU wird es unmöglich, Großbritannien für die Trägheit der Gemeinschaft verantwortlich zu machen. Auf diese Weise entdeckt Europa die dringlich in den Mittelpunkt rückende „deutsche Frage“[2] erneut. Deutschland ist umso zentraler, als es mit zwei unumgänglich gewordenen Gruppierungen verbunden ist: Auf der einen Seite die Hanse, die sich nach der Brexit-Entscheidung verstärkt hat und zu einer bedeutenden Widerstandsachse des nordischen Neoliberalismus und des deutschen Ordoliberalismus wurde. Auf der anderen Seite die Visegrád-Gruppe mit ihren sich verschiebenden Konturen, die allerdings um die illiberalen nationalistischen Regierungen in Polen und Ungarn herum strukturiert ist. Am Schnittpunkt dieser beiden Achsen steht Deutschland mehr denn je im Zentrum der europäischen Bühne und ist in der Lage, die eine oder andere dieser Koalitionen zu mobilisieren, ohne an vorderster Front zu stehen. Im Vergleich dazu ist Frankreich heute trotz seiner Besonderheiten, die es sowohl mit dem Norden als auch mit dem Süden verbinden, nur zögerlich bereit, zu seinen Mittelmeer-Partnern überzuwechseln, und unfähig, langfristig alternative Koalitionen aufzubauen. Das führt dazu, dass es letzten Endes häufiger isoliert als von zentraler Bedeutung ist.

Die Konsequenz daraus: Wenn der Souverän als derjenige definiert werden soll, der in letzter Instanz entscheidet und in Krisenzeiten bestimmt, dann befindet sich die europäische Souveränität zum größten Teil in Berlin und nicht in Paris oder Brüssel. Die Wiedervereinigung, die Erweiterung, die Krise der Eurozone[3], die Flüchtlings-Krise und – diesmal vielleicht – die Coronavirus-Krise: Aus jeder wichtigen Wende kommt Deutschland gestärkt, einflussreicher und durchsetzungsfähiger hervor. Und dies stört Europa sicherlich ebenso sehr wie das Verhältnis Deutschlands zu Europa. Deutschland ist weder in der Lage, seine neue Macht zu verinnerlichen wie es ein „wohlwollender Hegemon“ täte, noch fähig, auf sie zu verzichten, weil es sich weiterhin als ein kleines Land versteht, dessen Handlungen weder Europa noch die Welt beeinflussen.[4]

Für den Rest des Kontinents ist dieses ambivalente Deutschland über alles besonders traumatisch. Für seine Nachbarn Polen, Italien, Griechenland und natürlich auch für Frankreich. Deutschland steht im Zentrum all unserer kollektiven Wahnvorstellungen, unserer nationalen Auseinandersetzungen und unseres verletzten Stolzes.[5] Jede Anprangerung Europas hat Deutschland filigran im Hintergrund. Schließlich ist Deutschland der politische Schwerpunkt der Union, aber auch der Dreh- und Angelpunkt der französischen Beziehungen zu Europa.[6] Gestern war Brüssel das trojanische Pferd der neoliberalen Globalisierung im Dienste der Interessen der amerikanischen multinationalen Konzerne, heute steht es im Dienste des deutschen Ordoliberalismus. Trotz dieser umstrittenen groben Vereinfachungen findet diese These eine Art empirische Bestätigung, da die auf dem Kontinent wirkenden wirtschaftlichen Kräfte in hohem Maße den deutschen Wirtschaftsinteressen dienen konnten: Die Integration Osteuropas in die Produktionskette des deutschen Mittelstands, die relative Unterbewertung des Euro, welche die Export-Wettbewerbsfähigkeit förderte, die Flucht von Finanz- und Humankapital nach Deutschland, welche die Finanzierungskosten gesenkt und die Produktionskapazitäten der deutschen Wirtschaft erhöht haben. All dies sind starke Beschleuniger der deutschen wirtschaftlichen Divergenz und Dominanz.

Allerdings ist das deutsch-französische „Paar“ (das jenseits des Rheins weniger romantisch Zusammenarbeit“ genannt wird) eine der unüberwindbaren und auferlegten Figuren der französischen Europapolitik. Seit der Explosion des Europäischen Währungssystems und der Krise des Franc, die mit der Hilfe der Bundesbank gelöst wurde, ist Deutschland für die politische und verwaltungsrechtliche Elite des Landes unverzichtbar. In Wirklichkeit nahm die Möglichkeit einer monetären und anschließend politischen Hegemonie bereits mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht und der Einrichtung des europäischen Währungssystems zu, dessen Gravitationskräfte um die D-Mark kreisten.[7] In Frankreich drehte sich die Kampagne für das Referendum 1992 zudem weniger um den Vertrag als um seinen deutschen Nachbarn. Man musste „Nein“ sagen, weil dieser neue Riese die Europäische Union dominieren würde. Man musste „Ja“ sagen, weil dies der einzige Weg war, die wiedergewonnene Macht eines endlich wiedervereinigten Deutschlands im Zaum zu halten.

Das Trauma der französischen Bankenpanik im Sommer 2011 und die Herabstufung der französischen Kreditwürdigkeit, sowie der berühmte Verlust des AAA-Ratings Frankreichs Anfang 2012 verstärkten den traditionellen politischen Minderwertigkeitskomplex und fügten eine spürbare finanzielle Abhängigkeit hinzu. Das erklärt, warum Staatspräsident François Hollande, der während seines Wahlkampfes begeistert versprochen hatte, den von Deutschland Ende 2011 auferlegten Europäischen Fiskalpakt (TSCG) neu zu verhandeln, bereits beim Europäischen Rat im Juni 2012 kapitulierte.

Es geht dabei nicht um den verbreiteten Eindruck eines deutschen Europas, sondern um ein Verfassungsgericht, das anderen seine Rechtsordnung – und die damit verbundene politische Ordnung – diktiert.

Wie man die Frage auch dreht oder wendet, eines bleibt unvermeidlich: Für Frankreich, mehr noch als für seine Partner, bedeutet „Europa machen“ die Lösung „der deutschen Frage“. Diese Frage liegt der gesamten modernen europäischen Ordnung zugrunde – seit 1648: ein starkes Deutschland ist eine Gefahr, weil es seinen Lebensraum vom Atlantik bis zum Ural ausdehnen will. Ein schwaches Deutschland ist eine Gefahr, denn das geopolitische Vakuum im Herzen des Kontinents wird schnell zu einem tödlichen Strudel, in den die konkurrierenden Kräfte seiner Nachbarn gestürzt werden. Europa kann sich nicht ohne Deutschland verstehen, und Deutschland kann sich nicht ohne Europa begreifen.[8]

Deutschland stellt ein europapolitisches Problem und damit ein gewaltiges Hindernis auf dem Weg zur politischen Integration des Kontinents dar, zumal es argwöhnische Gefühle gegenüber den europäischen Institutionen nährt, die inzwischen als heuchlerische Maske betrachtet werden, hinter welcher der unausgesprochene deutsche Hegemon[9] dem übrigen Kontinent seine politischen Präferenzen[10] aufzwingt. Aus diesem Grund ist der regelrechte Angriff des Bundesverfassungsgerichts gegen den Gerichtshof der Europäischen Union und die Infragestellung des Vorrangs des europäischen Rechts vor nationalen Rechtsordnungen so grundlegend. Es geht dabei nicht um den verbreiteten Eindruck eines deutschen Europas, sondern um ein Verfassungsgericht, das anderen seine Rechtsordnung – und die damit verbundene politische Ordnung – diktiert.

Das Verständnis des europäischen Problem Deutschlands

Um die deutsche Frage zu lösen, muss man aber versuchen, nicht nur das deutsche Europaproblem, das in Warschau, Paris oder Rom leicht angeprangert wird, sondern auch das Europaproblem für Deutschland zu verstehen – und dieses ernsthaft zu behandeln. Oft wird Berlin für seine Amnesie verantwortlich gemacht: Einerseits gab es den Erlass der Schulden 1953, den der ehemalige griechische Premierminister Alexis Tsipras immer wieder als Beispiel anführte. Andererseits die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die sowohl zur Schaffung der ersten kontinentalen Solidarität, als auch zur Reinwaschung des Kriegsschatzes von Krupp und anderen Finanziers der Nazi-Partei diente.

Natürlich ist Europa für Deutschland eine Möglichkeit, sich von der Last seiner Erinnerung[11] zu befreien. Seine Öffentlichkeit und seine Politiker bekennen sich ständig zu ihrem europäischen Glauben und befürworten mit großer Mehrheit die Heiligkeit der deutsch-französischen Achse. Doch hinter dem allgegenwärtigen Gefühl, dass Deutschland viel für Europa tut – zu viel, wie die Wähler seiner extremen Rechten, der AfD, meinen – akzeptiert Deutschland in Wirklichkeit nicht viel mehr, als dass diese Erinnerungsarbeit auf Kosten seiner wirtschaftlichen Interessen geht, bzw. des Bildes, das es davon hat. Damit entwickelt es eine wachsende Form von Wirtschafts- und Verfassungs-Patriotismus, der als Modell für die Europäische Union fungiert. Dieser behauptet sich derzeit in einem solchen Maße, dass man ihm nicht mehr ausweichen kann. Die europäische Integration ist kein neutrales politisches Projekt mehr, sondern eine Machtprojektion, wie Ulrich Beck in seinem Essay „Das deutsche Europa“[12] betont hat.

So ist es auffällig, dass die SPD über die Außen- und Finanzminister[13], ebenso wie die CDU[14], weiterhin ein Integrationsmodell fördern, in dem der Bundestag de facto ein Parlament primus inter pares ist. Die Langlebigkeit von Angela Merkel an der Spitze des deutschen Kanzleramtes verzerrt die Perspektive in gewissem Maße. Aber auch wenn man immer darüber spekulieren kann, welche Haltung Helmut Kohl eingenommen hätte, der viel sensibler für die Herausforderungen der europäischen Solidarität war als seine Nachfolgerin[15], muss betont werden, dass die drei großen deutschen politischen Familien in den letzten 15 Jahren alle an der Machtausübung teilgenommen, und so zur Bildung eines parteiübergreifenden Konsenses zum status quo beigetragen haben. Dieser wurde fast ausschließlich von der AfD angefochten, für die der Austritt Deutschlands, wenn nicht aus der EU, so doch zumindest aus dem Euro, eine echte politische Option ist.

Doch trotz des Erfolgs der von der Union ermöglichten Wiedervereinigung; trotz der Wiedervereinigung des Kontinents und der Öffnung nach Osten – der Höhepunkt einer Ostpolitik, die sich in eine echte industrie- und wirtschaftspolitische Strategie verwandelte –; und trotz der erfolgreichen Aufdrängung seiner Antworten in der Krise der Eurozone, aus der es außerordentlich gestärkt hervorging und den Kontinent seither noch stärker beherrscht: Das föderale Deutschland –  die treibende Kraft und das Modell des europäischen Föderalismus – ist dennoch von Zweifeln geplagt.[16] Diese Zweifel sind unterschiedlicher Art und durchziehen die politische Elite und die Gesellschaft. Sie müssen von den Berliner Partnern verstanden und so ernst wie möglich behandelt werden.

Die Strategie Deutschlands, die von allen seinen Politikern geteilt wird, ist daher eine doppelte: „Die Rechnung begrenzen“ und die Kontrolle über die Wirtschaftspolitik der Schuldner-Mitgliedstaaten zu maximieren, um dadurch Eventualrisiken so gering wie möglich zu halten.

Die Zweifel sind in erster Linie demokratisch. Das Scheitern des Entwurfs eines Verfassungsvertrags für Europa im Jahr 2005, wurde in einem Land, das von einem – wie Habermas es nennt – „Verfassungspatriotismus“[17] geprägt ist, als ein heftiger Schock und als Frankreichs unverständlicher Verrat am gemeinsamen Projekt erlebt. Der nachfolgende Vertrag von Lissabon wurde im Hinblick auf die Forderung nach einer Demokratisierung der europäischen Institutionen – auch vom Bundesverfassungsgericht –  als unzureichend beurteilt. Die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs zum ungenügend demokratischen Charakter des Europäischen Parlaments[18] – aufgrund der unzureichenden Vertretung bestimmter Länder –  sind einige der Grundlagen für die gegenwärtige Zurückhaltung Deutschlands, mehr Souveränität und finanzielle Ressourcen auf die europäische Ebene zu übertragen.

Diese Skepsis hat die Entwicklung einer zunehmend intergouvernementalen Führung vorangetrieben, aber auch instrumentalisiert. Insbesondere während der Krise der Eurozone. Und zwar sowohl um die finanziellen Verpflichtungen Deutschlands zu begrenzen, als auch um die parlamentarische Kontrolle des Bundestags weiterhin zu gewährleisten, zumal dieser als alleinige demokratische Legitimitätsquelle gilt. Das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts setzt diese Tradition fort. Jedoch wirft es eine grundlegende Frage über die demokratischen Grenzen einer politischen Architektur auf, die Transfers und Haushaltssolidarität rechtlich verbietet, obwohl sie für das ordnungsgemäße Funktionieren und Überleben des Bauwerks unerlässlich sind.

Die eigentliche Frage ist jedoch, ob die Verfassungsrichter in gutem Glauben handeln und eine Änderung der Verträge und eine Demokratisierung der EU erzwingen wollen, die in der Lage sei, die Grundlagen für eine Föderation zu legen. Oder ist die Union ihrer Ansicht nach einfach dazu bestimmt, eine Gruppe souveräner Staaten zu bleiben, die einige Kompetenzen durch einen völkerrechtlichen Vertrag an gemeinsame Institutionen übertragen haben?  Dieses Thema ist in Deutschland nach wie vor grundlegend ungelöst (aber in Wirklichkeit ist dies in Frankreich und anderswo in Europa ebenso der Fall).

Ferner sind die Zweifel finanzieller Natur. Denn die Krise der Eurozone hat die grundlegenden Widersprüche des Vertrags von Maastricht offenbart. Der Kompromiss, der seiner Logik zugrunde liegt, beruht auf einer wackeligen Architektur, die von Frankreich akzeptiert wurde, um das sich gegen die gemeinsame Währung sträubende Deutschland zu überzeugen. Es fehlt die Haushaltssolidarität, über welche die Deutschen erst dann sprechen wollten, wenn die politische Integration und das wirtschaftliche Zusammenwachsen erreicht sei, so die „Krönungsthese“, die der Bundesbank am Herzen lag. Allerdings hat die Krise gezeigt, dass sich die Haushaltssolidarität (die gefürchtete Transferunion) trotz dieser Fassadenvereinbarung als unvermeidlich erweisen und in der einen oder anderen Form geschehen würde: Die große deutsche Angst, finanziell für ein Europa verantwortlich zu sein, über das es keine Kontrolle hat. Die Strategie Deutschlands, die von allen seinen Politikern geteilt wird, ist daher eine doppelte: „Die Rechnung begrenzen“ und die Kontrolle über die Wirtschaftspolitik der Schuldner-Mitgliedstaaten zu maximieren, um dadurch Eventualrisiken so gering wie möglich zu halten. Diese Logik ist aus der Sicht eines besorgten Gläubigers durchaus zu verstehen, aber sie schafft eine zerstörerische europäische politische Spirale, deren politische Risiken Deutschland nicht wirklich wahrnimmt und denen es ohnehin nicht zu entkommen gelingt.

Aus diesem Grund lautet die derzeitige Antwort Deutschlands – inklusive der Linken –  im Kontext der Coronavirus-Krise: Der Europäische Stabilitätsmechanismus müsse angewendet werden. Schließlich ermögliche dieser – wenn nötig – die politische Kontrolle über die Haushaltsentscheidungen des Landes und zwar als Gegenleistung für finanzielle Unterstützung. Diese Logik, die Jean-Claude Trichet als „Ausnahme-Föderalismus“ bezeichnet hat (indem er ihn de facto befürwortet und sich als Verbündeter dieser Strategie ausgegeben hat), ist eine Antwort auf die deutsche Finanzangst, streut aber die Saat einer tiefen politischen Krise. Hinzu kommt die chronische Finanzschwäche der südlichen Länder, die sich ihr nicht dauerhaft entgegenstellen können, sowie die mangelnde Konstanz und die Rücktritte in Frankreich, das erneut kapituliert und seine Koalitionspartner bei den Verhandlungen der Eurogruppe im März-April auf offenem Feld im Stich gelassen hat.[19]

Schließlich leidet Deutschland an einer strategischen Angst, die durch die europäische Integration beschleunigt wird. In der Tat gibt die Entwicklung einer stärkeren europäischen Integration im militärischen Bereich jenseits des Rheins Anlass zur Besorgnis, weil sie zwei tief in der deutschen Nachkriegsidentität verwurzelte Tabus in Frage stellt. Das erste betrifft das de facto weitgehend entmilitarisierte Deutschland und seine zutiefst nicht-interventionistische Diplomatie. Das zweite bezieht sich auf die amerikanische Schutzgarantie, die es Deutschland erlaubte, sich wie eine große blockfreie Schweiz zu verhalten. Diese Position wurde zweimal in Frage gestellt: Während der Jugoslawienkriege und während des Irakkriegs, jedoch ohne größere geopolitische Konsequenzen. Heute zwingen die Rückkehr einer aggressiven russischen Politik und vor allem der Rückzug der Amerikaner Berlin dazu, seine Position in Bezug auf die Nutzung militärischer Gewalt und ihre Einbindung in einen europäischen Rahmen tiefgreifend zu überdenken.

Dabei darf weder unterschätzt werden, welch große Veränderung dieser Bruch mit der amerikanischen Bevormundung mit sich bringen würde, noch die legitimen Bedenken verharmlost werden, die mit einer verstärkten militärischen Zusammenarbeit mit Ländern wie Frankreich verbunden sind. Zumal dieses in hohem Maße interventionistisch ist, insbesondere in seinem sich stets verändernden postkolonialen Machtbereich. Im Übrigen ist es die Klausel zur Integration der nationalen Verteidigung, die bei der Unterzeichnung des Vertrags von Aachen im Jahr 2019 das größte deutsche Zugeständnis an die französische Beharrlichkeit darstellte. Dennoch ist die jüngste Entscheidung der deutschen Regierung, sich zu einem Programm zum Kauf amerikanischer F18-Kampfjets zu verpflichten, um innerhalb der amerikanischen Nukleargarantie zu bleiben, aussagekräftig genug: Deutschland ist unfähig, von diesem Reflex abzulassen, obwohl alle Führungszirkel wissen, dass er nicht nur anachronistisch, sondern potenziell auch gefährlich ist.

Diese Gewohnheiten sind tief in der deutschen Politik verwurzelt. Die Hoffnung, ein einfacher Regierungs- oder Mehrheitswechsel in dem allmählich zum Reich Mitteleuropas gewordenen Deutschland reiche aus, um diese profunden Dispositionen zu verändern, scheint demnach leider unwahrscheinlich. Tatsächlich haben selbst die deutschen Grünen – nicht zuletzt bei den kurzen Koalitionsverhandlungen im Herbst 2017 – gezeigt, dass sie wahrscheinlich einen großen Teil ihres europäischen Programms zugunsten ihrer Klimaprioritäten geopfert hätten. Und wie soll man ihre Vorbehalte bezüglich des Buy European Act verstehen? Als Angst vor Handelsvergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Exporte?

Statt in der Sackgasse stecken zu bleiben, sich hinter kulturellen Stereotypen zu verschanzen und den politischen Kampf aufzugeben, sollte man sich darauf konzentrieren, die „deutsche Frage“ eben gerade durch die Politik zu lösen. Diese Antwort erfordert eine Mischung aus Dialog mit der deutschen Zivilgesellschaft und der Politik. Sie muss eine transnationale Dimension aufweisen, und dabei helfen, die legitimen Ängste zu überwinden, welche die europäische Integration auslösen bzw. verschärfen kann. Manchmal braucht es aber auch einer direkten Auseinandersetzung anhand von Koalitionen, die in der Lage sind, ein klares Machtverhältnis herzustellen. Es muss akzeptiert werden, dass sich Europa – die europäische politische Gemeinschaft – sowohl in Uneinigkeit als auch in deutsch-französischem Einklang konstituiert.

Die unverzichtbare Transnationalisierung der Politik

Die Überwindung und Umgehung der deutschen Blockade ist wünschenswert. Auch aus deutscher Sicht. Die schwachen Signale einer transnationalen politischen Integration mehren sich und machen diese Umgehung möglich. Dies ist eine der wichtigen Lehren aus der letzten Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2019, in der sich die zehnjährige Dynamik einer Europäisierung unserer innenpolitischen Szenen bestätigt hat.[20] Zunehmende Wahlbeteiligung und transnationale Fragen: Dieses wiedererwachte Interesse an der kontinentalen Demokratie ist zu einem Großteil den „Schrecklichen“ der europäischen Erzählung zu verdanken, die sich stets um die Bildung einer europäischen öffentlichen Meinung bemühen. Wie in Hollywoods größten Erfolgen sind es die Schurken, die zu Helden werden. Und Krisen. Der Stil Europas ist der einer Geschichte in Bewegung.

Man kann daher auch davon ausgehen, dass diese Gesundheitskrise hinter ihren institutionellen Mängeln und dem traurigen Schauspiel der gescheiterten nationalen Koordinierungen paradoxerweise die Dynamik der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit neu entfacht hat.

In den letzten zehn Jahren haben die aufeinanderfolgenden Phasen der Krise der Eurozone wesentlich zu diesem kontinentalen Bewusstsein unserer gegenseitigen politischen Abhängigkeit beigetragen. Noch nie zuvor hatten eine Abstimmung im Bundestag, ein Urteil eines deutschen Obersten Gerichtshofs, die Regierungsbildung in Finnland oder ein Referendum in Griechenland so viele Auswirkungen auf den Verlauf unseres nationalen politischen Lebens. Nie zuvor hat es in den Seiten unserer Zeitungen so viel Resonanz gegeben, auch wenn es noch immer viel zu wenige Mainstream-Medien mit europäischer Perspektive gibt.

Man kann daher auch davon ausgehen, dass diese Gesundheitskrise hinter ihren institutionellen Mängeln und dem traurigen Schauspiel der gescheiterten nationalen Koordinierungen paradoxerweise die Dynamik der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit neu entfacht hat. Indem sie sich direkt an die öffentliche Meinung wenden und außerhalb der undurchsichtigen verschlossenen Türen diplomatischer Verhandlungen Partei ergreifen, beginnen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs – bis zu einem gewissen Grad – auf kontinentaler Ebene politisch zu engagieren.[21]

Dies war zum Beispiel bei Emmanuel Macron der Fall. Nachdem er seine Europapolitik systematisch in die sterile Dynamik der deutsch-französischen Zusammenarbeit eingebunden hatte, gab er in einem synkopierten Tango mit der Kanzlerin zu, dass unter diesen Umständen zusammengearbeitet werden müsse. Ein erster Versuch, das deutsche Hindernis zu umgehen, wurde auf dem Gipfel im rumänischen Hermannstadt (9. Mai 2019) gewagt: Mit der Allianz aus Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Spanien und Schweden wurde ein starkes Engagement für die ökologische Wende gefordert. Innerhalb weniger Wochen hat diese Koalition ihr Programm trotz der Vorbehalte Berlins dem Rest der Union weitgehend aufgezwungen. Dies war erneut der Fall anlässlich des Europäischen Rates vom 26. März 2020, als eine Koalition von neun Mitgliedstaaten, die geschickt Länder aus dem Norden und Süden (Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, Slowenien, Belgien, Luxemburg und Irland) sowie Spitzenpolitiker von rechts und links miteinander verband, um eine solidarischere Antwort auf die Coronavirus-Krise vorzuschlagen und zu versuchen, die Frage einer gemeinsamen Verschuldung anzugehen.

Doch was dank der COVID-Krise erwachte und eine echte neue europäische Strategie hätte sein können, war nur eine vorübergehende Laune. Einige Tage später zerbrach diese Koalition beim Treffen der Eurogruppe am 29. März, während der französische Finanzminister wieder in seine Rolle als bester Partner Deutschlands schlüpfte, um einen Kompromiss zu erzwingen, der den italienischen Interessen (Mitglied der Koalition) zuwiderlief. Trotzdem bekräftigte der französische Staatspräsident die Ziele der Koalition und zog – trotz fehlender Einstimmigkeit – sogar in Erwägung, die Solidarität und die gemeinsame Ausgabe von Schuldverschreibungen mit dieser Avantgarde zu organisieren. Letzten Endes aber gab er in seinem Interview mit der Financial Times vom 16. April 2020, in dem er den „historischen Moment“ verkündete, den diese Krise darstelle, keinerlei Hinweise auf die Koalition und ihre Ziele.[28] Die Weigerung, die von Spanien unterbreiteten Vorschläge formell und öffentlich zu unterstützen, brach die Einheit der Koalition im Rat, der – seiner diplomatischen Praxis treu – die tiefen inneren Meinungsverschiedenheiten verschleierte, indem er die Kommission um einen neuen Vorschlag bat.

Transnationale Politik würde zudem erfordern, dass wir aufhören, Meinungsverschiedenheiten durch diplomatische Floskeln zu verschleiern. Beispielsweise standen sich zwei Finanzminister – Wopke Hoekstra aus den Niederlanden und Roberto Gualtieri aus Italien – am 7. April 2020 in der Eurogruppe als Hauptgegner entgegen und kehrten anschließend in ihre jeweiligen Hauptstädte zurück. Dort erklärte der Eine, dass jegliche Bedingungen bei der Anwendung des ESM fallen gelassen werden, der Andere, dass sie beibehalten werden. Und das Problem ist, dass sie beide Recht haben. Wie kritische Kolumnisten wie Wolfgang Münchau regelmäßig wiederholen: Die Aufgabe der europäischen Diplomaten ist es, die Worte zu finden, die es jedem ermöglichen, die Botschaft zu seinen Gunsten zu interpretieren. Auch Bruno Le Maire bestätigt das: „Es gibt kein gutes Abkommen ohne eine gute konstruktive Zweideutigkeit“. In der Politik geht es jedoch nicht darum, auf diplomatischem Wege das Gesicht des anderen zu wahren. Politik bedeutet, die Machtverhältnisse eindeutig festzustellen und ohne falschen Schein Lösungen zu finden.

Wir dürfen uns damit nicht einfach abfinden: Dieses systematische Kneifen ist mit dem Funktionieren Europas nicht vereinbar und absolut unnötig. Es ist vielmehr ein Zeichen für die Unfähigkeit, die Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften, ihre Debatten und ihre Affekte zu „lesen“, zu interpretieren und zu mobilisieren. Allerdings ist „die deutsche Öffentlichkeit im Gegensatz zu dem, was alle denken, gar nicht gegen die Corona-Bonds“[22], weder in den öffentlichen Debatten[23], noch in den Meinungsumfragen. Alles in allem ist dieses feige Kneifen, das vor allem Lähmung hervorruft, vor allem das Ergebnis einer mangelnden wirklichen Theorie des europäischen Wandels, sowie der Konzentration auf eine „diplomatische“ Politik, unter Missachtung der transnationalen Politik. Dabei wäre genau sie als einzige in der Lage, Meinungen, Hindernisse und Machtverhältnisse in Europa zu bewegen.

Transnationale Politik ist der Schlüssel zum europäischen Wandel. Sie basiert auf multidimensionalem Handeln, das auf der Konstruktion konstanter und sich bewegender Bündnisse aufbaut.

Dies sind allerdings die Mittel und Methoden, welche die Kräfte des europäischen Zerfalls mit Talent einsetzen. Ein Wahlplakat, das Marine Le Pen und Matteo Salvini gemeinsam unter dem Motto „In ganz Europa kommen unsere Ideen an die Macht“ zeigt, veranschaulicht dies wunderbar. Man könnte aber auch die sehr starken Verbindungen zwischen einer regionalen politischen Partei, der bayerischen CSU, und der in Ungarn an der Macht befindlichen Partei von Viktor Orban erwähnen, deren Entscheidungen zugunsten der deutschen Automobilindustrie und insbesondere von Audi – mit Sitz in Bayern – offensichtlich und belegt sind. Es gibt ein weiteres Beispiel für eine hochwirksame transnationale Politik: Die „Neue Hanseatische Liga“, die im Februar 2018 von den Finanzministern Dänemarks, Estlands, Finnlands, Irlands, Lettlands, Litauens, der Niederlande und Schwedens gegründet wurde. Es handelt sich um eine Gruppe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die sich für mehr Steuerkonservatismus innerhalb der europäischen Institutionen einsetzt. Diese politische Ausrichtung geht über die gemeinsamen Interessen innerhalb der Eurozone hinaus, da der Liga zwei Nicht-EU-Mitglieder sowie ein Land – Irland – angehören, das einst der berühmten Troika und ähnlichen Anpassungsprogrammen wie Griechenland unterstand. Interessant ist, dass diese Koalition in der Tat auf einer sehr offensichtlichen Annäherung der öffentlichen Meinungen in den betreffenden Ländern beruht, insbesondere wenn es um Währungsfragen, den europäischen Haushalt oder die Haltung gegenüber den südlichen Ländern geht. Ferner sind Linien der politischen Solidarität in all diesen wichtigen Fragen zu finden.

Transnationale Politik ist der Schlüssel zum europäischen Wandel. Sie basiert auf multidimensionalem Handeln, das auf der Konstruktion konstanter und sich bewegender Bündnisse aufbaut. Es handelt sich um eine Form des gegenseitigen Engagements der Zivilgesellschaften, über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Und dieses ist bereits überall am Werk und gestaltet den Kontinent in die richtige Richtung – beispielsweise die Umweltschutzbewegungen – und in die falsche – wie die fremdenfeindlichen und rassistischen Milizen, aber auch die Brüsseler Lobbyisten.

Es geht also nicht nur darum, Koalitionen im Rat und im Europäischen Parlament zu bilden, europäische politische Parteien aufzubauen oder darauf zu warten, dass bei der nächsten Europawahl endlich transnationale Listen entstehen. Zugegeben würde eine Partei mit einer europäischen Dimension es leichter machen, Veränderungen herbeizuführen, aber im Moment bleiben diese Strukturen Koalitionen nationaler politischer Kräfte, die den Konjunkturen der innenpolitischen Entwicklung unterworfen sind.

„Komfort in der Politik bedeutet, einer Macht, die niemals gestürzt werden kann, übermäßig viel Widerstand entgegenzusetzen.“ Dies soll ein Mitglied der republikanischen Opposition gesagt haben, die sich angesichts der Widerstandsfähigkeit des Zweiten Kaiserreichs von Louis-Napoleon Bonaparte als machtlos erwies. Mit dieser x-ten europäischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise erwacht in der französischen Linken die Hoffnung, die Geschichte bewirke endlich das, wozu sie weder den Mut noch die Durchsetzungsfähigkeit hatte: Der Zusammenbruch des Bauwerks, das man nicht selbst stürzen kann, das man aber auch nicht verlassen kann. Vielleicht wird Covid-19 für die EU das sein, was Sedan für das Empire war.

Die Mobilisierung der transnationalen Politik könnte bei all den von der Europäischen Union enttäuschten Menschen breite Zustimmung finden, zumal sie sich dennoch unserer gegenseitigen Abhängigkeit bewusst sind. Auf der einen Seite kann sie die „internationalistischen Souveränisten“ vereinen, d. h. diejenigen, die glauben, dass die Nation die unüberschreitbare Stufe der Demokratie[24] und der Ausübung der Souveränität bleibt. In diesem Fall wird sie dazu dienen, das Räderwerk einer Zusammenarbeit zu ölen, deren Konturen und Methoden erst noch erfunden werden müssen. Auf der anderen Seite ist sie für jene unumgänglich, die glauben, dass eine politische, demokratische und solidarische Gesellschaft auf kontinentaler Ebene nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist.

Wandeln auf dem gewundenen Pfad

Schließlich dauerte es mehr als ein Jahrhundert, bis die von der Französischen Revolution verkündeten Werte durch die Errichtung einer autonomen politischen Gemeinschaft verwirklicht wurden: Eine Gemeinschaft, die bereit war, in den Schützengräben für sie zu sterben. Auch wenn sich der Weg des europäischen Aufbauwerks natürlich von dem der Schaffung einer nationalen politischen Gemeinschaft unterscheidet, sind die Herausforderungen dennoch vergleichbar: Es geht um den Aufbau einer politischen Gemeinschaft. Mit anderen Worten: Es geht darum, zwischen Einzelpersonen Solidarität aufzubauen, die für diese nicht unbedingt natürlich ist.

Was die derzeitige Gesundheitskrise einmal mehr offenbart, ist bekannt: Ob wir an die Unübertrefflichkeit des Nationalstaates glauben oder nicht, wir haben ein in der Geschichte des Kontinents beispielloses Niveau gegenseitiger Abhängigkeit erreicht, aber es fehlt uns noch immer die affectio societatis, die Institutionen, die Perspektive und die politische Kultur, die notwendig sind, um das Maß an Solidarität zu organisieren, das diese wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Interdependenzen erfordern. Wir stehen demnach vor der Wahl, entweder die gegenseitigen Abhängigkeiten radikal zu verringern oder die Solidarität zu stärken[25]. Allerdings würden ein Austritt aus den gemeinsamen Institutionen und eine „Entglobalisierung“ nichts an unseren gegenseitigen Abhängigkeiten in den Bereichen Klima, Migration oder Gesundheit – um nur einige zu nennen – ändern. Angesichts dieser Herausforderungen, die prinzipiell transnational sind, mag die Entscheidung für mehr Solidarität am notwendigsten und wünschenswertesten erscheinen. Aber es gibt nicht genug transnationale politische Unternehmer, welche diese Solidarität umsetzen könnten. Die Sozialdemokraten sind gespalten und machtlos, die Christdemokraten sind durch die Spaltung zwischen Merkel und Orban gelähmt, die Liberalen begnügen sich mit dem Status quo, und die Grünen sind quantitativ und oft auch qualitativ zu schwach.

Trotz der Fehler und Niederlagen der EU kann sich niemand eine Welt ohne sie vorstellen. Und niemand kann wirklich erklären, warum diese Welt wünschenswert wäre. Umgekehrt weiß niemand, wie man das Programm des Wandels denken, bzw. umsetzen sollte, um die Europäische Union zu einem politischen Projekt der Hoffnung zu machen. Wir irren also gemeinsam in einem politischen Feld umher, das gleichzeitig von Denunzierung und Resignation geprägt ist. Emmanuel Macron war zweifellos der letzte französische Politiker, der glauben ließ, dass Europa verändert werden könne, indem man das strenge Spiel der Institutionen spielt und sich ausschließlich auf den historischen deutsch-französischen Motor verlässt. Die Frage ist, ob der nächste Präsident auf der Grundlage dieses Scheiterns, also unserer Resignation mit der de facto Akzeptanz des Status quo und des langsamen Todes des europäischen Projekts gewählt wird, oder ob wir, im Gegenteil, einen Präsidenten auf der Grundlage der Denunzierung wählen. D. h. eine Präsidentschaft mit dem Mandat, aus der EU auszutreten, oder ob bis dahin das Bewusstsein für die notwendigen Mittel einer echten transnationalen Politik vorhanden sein wird.

Laut Albert Hirschman[26] gibt es drei Antworten auf institutionelles Versagen: Exit, Voice, and Loyalty. Es liegt auf der Hand, dass der Austritt aus den Institutionen – wenn die Loyalität der nationalen Behörden nicht den erwünschten Effekt gebracht hat – weder eine Antwort auf die ursprünglichen Mängel noch auf die zusätzlichen Probleme darstellt, die er verursachen würde. Es bleibt also nur noch die Erhebung der Stimmen. Aber diese kann nicht auf den institutionellen und nationalen Bereich beschränkt werden. Um Europa aus der Sackgasse herauszuholen, muss wieder eine deutsche Mauer niedergerissen werden. Dafür gibt es nur einen einzigen Weg: Die Europäisierung der sich erhebenden Stimmen. Durch transnationale Politik.

Übersetzung: Julia Heinemann (Voxeurop)

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Französisch bei Le Vent Se Lève, und auf Englisch im Green European Journal.

[1] Vgl. Gaudot, Vallée, „La double impasse européenne“, Le Grand Continent, 15.04.2019.

[2] Stark, Hans. „De la question allemande à la question européenne“, Politique étrangère, Nr. 1, 2016, S. 67-78.

[3] Die Krise der Eurozone bat die Gelegenheit die deutsche Veto-Macht zu bestätigen und zu institutionalisieren, und zwar durch die Mechanismen der Finanzhilfe, der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), und anschließend des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), die den zwischenstaatlichen Charakter der Unterstützung und de facto das Vetorecht und die Macht des Bundestages bei diesen Operationen und bei der Organisation der Hilfsprogramme dauerhaft gemacht haben. Diese Zentralität Deutschlands bei jeder Hilfsentscheidung, die auf Kosten großer europäischer Manöver und unter der Bedrohung der Finanzmärkte zustande kam, ist zu einem zentralen Blockadefaktor geworden. Darüber hinaus ist diese Blockierung und das de facto Veto in der deutschen Erzählung notwendig geworden, um die – unveränderliche – Ewigkeitsklausel im deutschen Grundgesetz zu schützen, die dem Bundestag die ultimative Macht in Haushaltsfragen gibt.

[4] Vgl. Dieser sehr nützliche Beitrag aus dem Jahr 2010, von einem Kenner dieser Beziehungen zwischen Deutschland und dem europäischen Geist. Wolfgang Proissl : https://www.bruegel.org/2010/06/why-germany-fell-out-of-love-with-europe/.

[5] Eine Auslese militanter Ikonographie, die sich in den linken und rechten radikalen Kreisen bewegen: Die Sternenflagge der Europäischen Union, getarnt als gotisches Banner mit einem Hakenkreuz und einer Nummer. Das Vierte Reich, oder die Manifestation des deutschen Europas. Weit entfernt vom intellektuellen Euroskeptizismus der radikalen Linken oder den kritischen Analysen, häufen sich hier deutschfeindliche kulturalistische Klischees, um die anderen kulturalistischen Klischees eines französischen Genies und Stils besser zu zelebrieren, die vom deutschen Partner – und also Europa – missverstanden, verachtet und misshandelt werden… Wir befinden uns fast im Bereich der Kriegspropaganda. Deutschland ist wieder einmal der zu fürchtende Feind.

[6] Vgl. Gaudot und Althoff, „Engine breakdown or power shortage. How the Franco-German engine is no longer driving Europe“ in Tremors in Europe, Green European Journal, Nr. 13.

[7] Vgl. The Europe to come, Perry Anderson in London Review of Books, https://www.lrb.co.uk/the-paper/v18/n02/perry-anderson/the-europe-to-come.

[8] Michael Korinman, Quand l’Allemagne pensait le monde. Grandeur et décadence d’une géopolitique, Fayard, Paris, 1990.

[9] Vgl. Eugène Favier-Baron, Pablo Rotelli und Vincent Ortiz, „Pourquoi la crise du coronavirus impose de faire le procès de l’Union européenne“, LVSL.

[10] Vgl. Wolfgang Streeck, https://www.monde-diplomatique.fr/2015/05/STREECK/52905.

[11] Pierre Yves Gaudard, Le Fardeau de la mémoire: Le Deuil collectif allemand après le national-socialisme, Plon, Paris, 1997.

[12] Ulrich Beck, Non à l’Europe allemande, ed. Autrement, Paris, 2013.

[13] Brief des Außenministers bezüglich der solidarischen Antwort auf die COVID-19-Krise : https://www.auswaertiges-amt.de/en/newsroom/news/maas-scholz-corona/2330904.

[14] Hier für eine längere, technische und rechtliche Vision der europäischen Integration unter deutscher demokratischer Kontrolle von Christian Calliess, einem CDU-nahen Anwalt: https://verfassungsblog.de/auf-der-suche-nach-der-europaeischen-solidaritaet-in-der-corona-krise/.

[15] Dies ist so offensichtlich, dass es an ein Klischee grenzt, aber selbst wenn beide derselben christdemokratischen politischen Familie angehören, die den Aufbau Europas zu einer ihrer wichtigsten Prioritäten gemacht hat, trennt diese beiden großen konservativen Persönlichkeiten alles von der deutschen Politik: Kohl wurde im Rheinland und im katholischen Deutschland erzogen und ist ein Kind des Krieges, das durch die Erinnerungsarbeit und die Entnazifizierung geprägt ist, dessen Sublimierung Europa ist. Unterdessen stammt Merkel aus dem preußischen und protestantischen Deutschland und wurde im Sowjetregime erzogen, dessen Geschichtsschreibung die Völker stets ihrer Verantwortung im Krieg entbunden hat, indem sie diese als Opfer des mit dem Großkapital verbündeten Nationalsozialismus dargestellt hat.

[16] „Den entscheidenden Moment der Schwächung der [deutsch-französischen] Partnerschaft bildet die Reaktion auf die große Finanzkrise, die 2008 begann […]. Angela Merkels Deutschland missbrauchte seine dominante Stellung, um der EU eine zweifach katastrophale Entscheidung aufzuzwingen: Einerseits die nationale Verantwortung für die Bankenkrise, und andererseits die Auferlegung verheerender steuerpolitischer Sparmaßnahmen. Mit anderen Worten: Jeder soll auf den Baum seiner Wahl klettern, um dem Feuer zu entkommen, während jenen viel Glück gewünscht wird, die weder die Geschicklichkeit von Affen noch die Flügel von Vögeln haben“. In Gaudot und Althoff art. cit..

[17] Habermas, „Citoyenneté et identité nationale. Réflexions sur l’avenir de l’Europe“, in J. Lenoble und N. Dewandre, L’Europe au soir du siècle. Identité et démocratie, Paris, Esprit, 1992 ; und J. Habermas, „Warum braucht Europa eine Verfassung ?“, Rede an der Universität Hamburg (in Die Zeit, 27/2001).

[18] Vgl. The Lisbon Judgment of the German Federal Constitutional Court – New Guidance on the Limits of European Integration? German Law Journal, Vol. 11, Nr. 4, 367-390 (2010). https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2543488

[19] Für eine Beschreibung der Heuchelei wirtschaftlicher Reaktionen und des Nachgebens Frankreichs in den Verhandlungen vgl. Lenny Benbara https://lvsl.fr/a-lassaut-du-ciel/.

[20] Vgl. Gaudot, „Une nouvelle marée verte ?“, in Esprit, September 2019.

[21] Vgl. Gaudot, Vallée, art. cit.

[22] Vgl. Lucio Baccaro, Björn Bremer and Erik Neimanns, « Eveyone thinks that Germans oppose coronabonds. Our research shows how they’re wrong. », Washington Post, 20/04/2020.

[23] Vgl. Johanna Luyssen, „Les coronabonds fissurent le consensus allemand“ , Libération, 07/04/20.

[24] Vgl. David Djaiz, Slow démocratie: Comment maitriser la mondialisation et reprendre notre destin en main.

[25] Vgl. Paradox der Globalisierung von Dani Rdorik,https://drodrik.scholar.harvard.edu/links/globalization-paradox-nutshell.

[26] Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty (1970).