Seit dem Brexit und der Wahl Trumps sind die Forderungen nach einer Europäischen Verteidigungsunion lauter geworden. Europa versteht, dass es sich mehr um seine eigene Sicherheit kümmern muss. Zahlreiche Initiativen und Strategiepapiere wurden veröffentlicht und am Donnerstag (28.06.2018) will der Europäische Rat sich dem Thema widmen. Wir sprachen mit Reinhard Bütikofer MdEP, Vorsitzender der Europäischen Grünen, über den neuen europäischen Verteidigungsfonds, Macrons militärische Eingreiftruppe, Merkels europäischen Sicherheitsrat und den neuen sicherheitspolitischen Kurs – eine Abkehr von der zivilen Krisenprävention –  den die EU verfolgt.

Green European Journal: US-Präsident Trump kritisiert scharf, dass die Europäische Union nicht genug in die Rüstung investiert und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht erfüllt. Nun hat die Europäische Kommission aber einen milliardenschweren Verteidigungsfonds verabschiedet. Ist das die Antwort auf Trump?

Reinhard Bütikofer: Die Vorstellung, dass alle Mitgliedsstaaten mindestens zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Rüstung ausgeben müssen, hat Trump nicht erfunden. Ich kann mich an keinen einzigen amerikanischen Verteidigungsminister aus den letzten 20 Jahren erinnern, der diese Forderung nicht erhoben hätte. Trump hat aber einen neuen Ton in die transatlantische Debatte gebracht. Er stellt die Verlässlichkeit der USA als NATO-Partner in Frage und hat den Bündnisfall auf der Basis von Artikel fünf offen in Zweifel gezogen.

Das hat zu einer Neubewertung der europäischen Verteidigung geführt. Im Bundestagswahlkampf 2017 hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer sogenannten Bierzelt-Rede erklärt, man könne sich auf die USA nicht mehr ganz verlassen, Europa müsse seine Sicherheit in die eigene Hand nehmen. Tatsächlich wurden 2017 einige praktische Schritte ergriffen. Das hatte außer mit dem Trump-Schock auch damit zu tun, dass die britische Brexit Entscheidung einen wesentlichen Bremsklotz bei der europäischen Verteidigungspolitik aus dem Weg räumte.

Eine wesentliche Kurzschlüssigkeit dominiert allerdings die Debatte zur europäischen Verteidigungspolitik. Das Problem ist nämlich nicht in erster Linie eine zu geringe Höhe der Rüstungsausgaben, sondern dass die Gesamtrüstungsausgaben aller EU Staaten, die ungefähr das Dreifache der Ausgaben Russlands entsprechen, so ineffizient sind, dass die Fähigkeiten weit hinter dem Erforderlichen zurückbleiben. Es werden in der EU bei der Rüstungsbeschaffung tatsächlich Steuergelder großzügig verplempert. Statt Koordinierung herrscht Zersplitterung. Wo die Amerikaner 30 verschiedene Waffensysteme haben, hat die EU 178. Mit einer Erhöhung der Rüstungsausgaben füttert man also die Rüstungslobby, trägt aber nicht zur Lösung der wirklichen Probleme bei. Deswegen sagen wir Grüne: Europa muss mehr für die gemeinsame Sicherheit tut, aber es muss vor allem an der Effizienzschraube drehen.

Aber das ist doch das Kernanliegen des Verteidigungsfonds. Es geht darum eine gemeinsame, effiziente Beschaffung zu fördern.

Das ist zwar die offizielle Begründung, aber ich sehe eine ganze Reihe von Problemen. Die europäischen Verträge untersagen ausdrücklich die Finanzierung von Rüstung durch das europäische Budget. Um diese Bestimmung zu umgehen, begründet die EU-Kommission ihr Vorgehen damit, dass es sich um Industriepolitik und um die Förderung einer wettbewerbsfähigen europäischen Rüstungsindustrie handelt. Wenn es der EU-Kommission wirklich darum gehen würde, die Rüstungsbeschaffung zu bündeln, dann würde sie die EU-Mitgliedsstaaten dazu bewegen, dies aus ihren eigenen Rüstungsbudgets heraus zu tun, anstatt den ohnehin zu knappen EU Haushalt für ein bisschen mehr Kooperation bei der Rüstungsforschung und der Rüstungsbeschaffung einzusetzen. Durch Verringerung der ganzen Duplizierung ließen sich pro Jahr 25 bis 100 Milliarden Euro einsparen. Stattdessen will die Kommission nochmal zehn bis 20 Milliarden Euro mehr ausgeben. Also ich bitte!

Es werden in der EU bei der Rüstungsbeschaffung tatsächlich Steuergelder großzügig verplempert.

Außerdem ist es leider so, dass das Europäische Parlament überhaupt keine Kontrolle über diese EU Mittel hat. Das Europäische Parlament hat, gegen die Stimmen der Grünen, mit dem Europäischen Rat eine Verständigung getroffen, dass es keinerlei Beteiligung haben würde bei den operativen Programmen des Verteidigungsfonds. Die Zivilgesellschaft ist übrigens auch nicht beteiligt. Und die sogenannten unabhängigen Experten, von denen in der Regulierung die Rede ist, sollen unter der Kontrolle der jeweiligen nationalen Verteidigungsminister stehen.

Obendrein hat sich eine Mehrheit des Parlaments aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale dazu hinreißen lassen, dass Mittel aus diesen Fonds zum Beispiel auch für Killer-Drohnen verwendet werden dürfen. Damit werden Standards eingerissen, die das Europäische Parlament in der Vergangenheit noch verteidigt hat!

Und was ist mit der Europäischen Verteidigungsagentur? Die wurde doch gerade für die gemeinsame Rüstungsbeschaffung und Koordinierung etabliert.

Die sollte man abschaffen. Sie hat bewiesen, dass sie die Aufgabe, für die sie angeblich geschaffen wurde, nicht erfüllen kann. Da sollte man einfach die Konsequenzen ziehen: die Verteidigungsagentur war eine halbgare Lösung und hat nix gebracht.

Wo sollen denn die Gelder für den Verteidigungsfonds herkommen? Ist das frisches Geld oder einfach nur Umverteilung?

Nur ein minderer Teil soll frisches Geld sein. Der Rest soll aus den Haushalt genommen werden. Es wird also enorme Verteilungskämpfe geben. Die Gefahr, dass deswegen wichtige Forschungsvorhaben in anderen Bereichen bluten müssen, ist nicht vor der Hand zu weisen. Außerdem werden auch die Ausgaben für zivile Konfliktprävention gestrichen. Während die Europäische Kommission in den Zeitraum bis 2027 insgesamt 20 Milliarden für Rüstungsforschung, Beschaffung und Infrastruktur ausgeben will, soll im gleichen Zeitraum das Budget für zivile Konfliktbearbeitung von derzeit 2,3 Milliarden auf etwa eine Milliarde gekürzt werden.

Geld alleine macht aber keine Strategie aus. Siehst Du denn einen klaren verteidigungspolitischen Kurs? Zahlreiche Strategiepapiere und Initiativen wurden in den letzten zwei Jahren gestartet. Hat sich daraus eine Strategie herauskristallisiert?

Nein. Ich sehe bis jetzt noch keine Strategie, obwohl sich in der Tat viel im letzten Jahr getan hat. Bewegung bei der Verteidigungspolitik hat es vor allem in drei Bereichen gegeben. Erstens bei der Forschung und Beschaffung mit dem Europäischen Verteidigungsfonds. Zweitens soll die verteidigungspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) ausgebaut werden. Einige Projekte sind von unterschiedlichen Mitgliedsstaaten schon unterzeichnet worden. Die Möglichkeit dieser vertieften Zusammenarbeit unter der Überschrift PESCO gibt es eigentlich schon seit zehn Jahren mit dem Lissabonner Vertrag. Das ist aber erst in Gang gekommen, seitdem die Briten wegen Brexit nicht mehr blockieren. Allerdings halten die Franzosen die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit für zu zögerlich. Paris würde viel lieber eine kleine Koalition der Willigen bilden, die auf andere Mitgliedsstaaten nicht so viel Rücksicht nehmen muss. Und deswegen hat der französische Präsident Macron, und das ist der dritte Punkt, eine Interventions-Initiative vorgestellt.

Die Merkel ja auch begrüßt hat.

Die Merkel begrüßt hat, aber in einer spezifisch merkel‘schen Art und Weise. Sie hat ja gesagt und implizit einen anderen Weg signalisiert. Macron will diese Initiative ausserhalb der üblichen Strukturen der militärischen Zusammenarbeit etablieren. Merkel sagt wiederum, das muss in der bestehenden Struktur eingebettet werden. Dafür gibt es gute Gründe. Schließlich haben wir jetzt schon zahlreiche ungenutzte Strukturen. Wir haben zum Beispiel zwei Battle Groups, die noch nie genutzt wurden. Wir haben die deutsch-französische Brigade und vor zehn Jahren hat es eine Verabredung gegeben über eine EU-Stabilisierungseinheit von 60.000 Soldaten, aber aus der wurde nichts. Jetzt einfach zu sagen, wir packen da noch was ganz Neues oben drauf, ist nicht wirklich sinnvoll. Leider scheint Merkel da Macron nachzugeben.

Europa muss mehr für die gemeinsame Sicherheit tun, aber es muss vor allem an der Effizienzschraube drehen

Und übrigens thematisieren die Osteuropäer eine weitere Frage bei der Verteidigungsunion: welche Rolle soll die EU eigentlich bei der Landesverteidigung spielen? Gemeinsame Rüstungsinitiativen, gemeinsame Rüstungsforschung, gemeinsame Rüstungsbeschaffung – all das löst diese Frage ja noch lange nicht. PESCO genauso wenig. Alle drücken sich um diese Frage. In der Praxis umgeht man diese Frage indem man immer noch auf die NATO setzt.

Wäre Macrons Initiative keine Antwort auf die Frage der Landesverteidigung? Frankreich ist ja der NATO traditionell nicht so sehr verbunden.

Die Interventionsinitiative betrifft Fälle wie Mali. Wenn man neben der NATO eine EU-Landesverteidigung aufbaut, dann wäre das eine Verdopplung von Strukturen. Aber es gibt natürlich in der EU schon lange Leute, die immer wieder das Konzept der „strategischen Autonomie“ der EU beschwören. Ich bekämpfe das immer wieder. Das Konzept ist realitätsfremd. Wenn man es wirklich ernst nimmt, dann müsste die EU eine Kriegsführungsfähigkeit unabhängig von den USA und der NATO zum Ziel haben. Dies müsste wahrscheinlich auch eine nukleare Komponente beinhalten. Ich halte das für völlig unausgegoren und friedenspolitisch abstrus. Dieses Konzept der strategischen Autonomie würde zu mehr Unsicherheit beitragen! Aber es gibt ja auch Leute in Brüssel, Frau Mogherini eingeschlossen, die Europa als Supermacht sehen. Da ist nicht immer Realismus der Ratgeber.

In der verteidigungspolitischen Debatte hat Bundeskanzlerin Merkel einen Europäischen Sicherheitsrat vorgeschlagen. Ist das eine gute Idee?

Was soll denn dieser Sicherheitsrat machen? Mir scheint das eher eine dieser Überschriften, die schnell erfunden sind und dann beschäftigt man sieben Kommissionen damit, sich zu überlegen, was wohl hätte gemeint sein können. Ein nationaler Sicherheitsrat trifft grundlegende Entscheidungen der Sicherheitspolitik. Aber solange Sicherheitspolitik in der EU nationale Kompetenz ist, frage ich mich, welche Rolle dann ein EU-Sicherheitsrat spielen soll. Dass sich einzelne EU-Länder von einem Sicherheitsrat sagen lassen, wo es lang geht, halte ich für die nächsten Jahre für ziemlich unwahrscheinlich.

Fazit: die EU hat keine verteidigungspolitische Strategie sondern ein Gemischtwarenladen verschiedener Initiativen. Was wäre denn die Verteidigungsstrategie der Grünen?

Ich will nicht behaupten, dass wir europaweit da eine klare Verständigung hätten. Aber im Kern geht es um das Verständnis, dass Sicherheit in umfassendem Sinn mit der menschlichen Kondition zu tun hat. Sicherheit kann man nicht einfach ans Militär delegieren. Die Grüne sicherheitspolitische Strategie nimmt nicht die militärische Dimension zum Ausgangspunkt. Sicherheit wird im Wesentlichen nicht über Militär hergestellt. Klimawandel, fairer und freier Handel, eine gerechte globale Entwicklung, die Gewährleistung von Menschenrechten – all das hat sicherheitspolitische Implikationen, lange bevor man auf die militärische Dimension zu sprechen kommt. In der Vergangenheit hat die EU mit ihrer Betonung sie sei Friedensmacht, mit ihren Einsatz für Menschenrechte, mit ihrem Fokus auf zivile Konfliktbearbeitung, auf diesen erweiterten sicherheitspolitischen Horizont großen Wert gelegt. Im gegenwärtigen Haushaltsplan wird für die zivile Konfliktprävention ungefähr genau soviel Geld zur Verfügung gestellt, wie für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber davon kehrt sie sich ab. Wichtige Instrumente, wie das Instrument für Stabilität und Frieden, werden zum Beispiel abgeschafft. Die EU ist dabei in der Sicherheitspolitik einen großen Rückschritt zu machen. Eine Sicherheitspolitik die mehr für Rüstung ausgibt, nicht die Effizienz ins Zentrum rückt und bei der zivilen Seite von Sicherheit weniger Ehrgeiz entwickelt, ist auf dem Holzweg.