Der Wiener Bezirk Währing bietet eine ländliche Idylle im Westen und ein urbanes Zentrum im Osten. Die grüne Bezirksvorsteherin Silvia Nossek gewann die Wahl mit dem Versprechen, den Verkehr zu reduzieren und das „Parkpickerl“ einzuführen. Ein attraktives Programm für den urbanen Teil ihrer WählerInnenschaft, das allerdings von Vielen an der Peripherie entschieden abgelehnt wurde. Diese Spannungen sind bezeichnend für eine riesige Herausforderung für die Grünen – eine Antworten für Stadt und Land gleichermaßen zu entwickeln.

Georg Maißer: Was zeichnet den Grünen Zugang zur Lokalpolitik aus?

Silvia Nossek: Der grüne Zugang zu Politik besteht vor allem darin, das auszusprechen, was ohnehin den meisten Menschen klar ist – und doch ist es eine unangenehme Wahrheit: Weiter wie bisher geht nicht. Und die notwendige Transformation unserer Art zu leben, zu produzieren, zu konsumieren kann nicht bzw. nicht nur national und international erfolgen – sie muss auch in der Lokalpolitik ihren Niederschlag finden.

Im täglichen Handeln hilft mir die klare Zielsetzung, unsere Gesellschaft ökologisch und sozial zukunftsfähig zu machen – so, dass jetzt und in Zukunft ein gutes Leben für alle möglich wird.

So ist es im Alltag immer wieder erstaunlich, welche Emotionalität die Frage von Autoverkehr und Parkplätzen hervorruft – wie sehr jede Rückgewinnung von öffentlichem Raum für umweltfreundlichen Verkehr, für Baumpflanzungen, als Platz für alle von vielen als Einschränkung persönlicher Freiheit und Eingriff in die eigene Lebensführung empfunden wird. Diese Entscheidungen lassen sich nur treffen und argumentieren vor dem Hintergrund von Zukunftsfähigkeit und dem Recht aller Menschen, auch dem von Kindern und älteren Menschen, auf Mobilität.

Wie kommt es, dass die Grünen selbst in Deinem Bezirk im städtischen Teil erfolgreicher sind als im ländlichen? Welches Problem haben die Grünen mit ländlichen Strukturen?

Es gibt einfach markante Strukturunterschiede: Der innerstädtische Teil Währings hat eine bessere Nahversorgung, ein viel besseres Angebot an öffentlichem Verkehr – hier kann man gut ohne eigenes Auto leben. Gleichzeitig bringt die dichte Bebauung ein hohes Interesse am öffentlichen Raum und eine hohe Sensibilität für seine Übernutzung durch das Auto.

Umgekehrt sind die Menschen in den Randbereichen wesentlich mehr aufs Auto angewiesen – und haben aufgrund der Siedlungsstruktur und der vielen eigenen Gärten weitaus weniger Interesse am öffentlichen Raum.

Hier und heute haben wir Grüne für den innerstädtischen Raum ein grünes Lebensmodell anzubieten – für den ländlichen Raum allerdings nicht. Nehmen wir nur die Tatsache, dass eine energietechnisch durchschnittlich verfasste Wiener Wohnung in der Gesamtenergiebilanz wesentlich besser abschneidet als jedes Passiv-Einfamilienhaus am Land. So, wie am Land derzeit gebaut wird, wie Einkaufsinfrastruktur und Mobilität organisiert sind, geht das mit nachhaltiger Lebensweise nicht zusammen – man kann die Menschen kaum individuell ansprechen, sondern es braucht grundlegende strukturelle Änderungen. Und wir haben uns noch zu wenig damit auseinandergesetzt bzw. zu wenig in die Diskussion gebracht, was das heißt. Eine der wenigen Ausnahmen in diese Richtung ist das in Salzburg von Astrid Rössler erarbeitete neue Raumordnungsgesetz, das ich genau deswegen für einen wegweisenden Meilenstein halte.

Am Land sind die Menschen zunehmend besorgt wegen der Zersiedelung und der damit einhergehenden Versiegelung der Böden. Sie sehen, wie in ihren Dörfern und Kleinstädten die Zentren aufgegeben werden, weil der autozentrierte Lebensstil nicht kompatibel ist mit hunderte Jahre alten Siedlungsmustern. Wir sind die Partei die sagt, dass wir alle uns verändern müssen. Das ist für viele Menschen schmerzhaft und macht ihnen Angst. Aber wir müssen zeigen, dass unsere Lösungen letztlich zu einem besseren Leben führen.

Es scheint als hätten die urbanen Bobos in Wien, Madrid, London und Paris einen gemeinsamen Lebensstil entwickelt. Die BewohnerInnen der (europäischen) Städte gleichen einander sehr, aber sie unterscheiden sich gleichzeitig sehr stark von ihren jeweiligen ländlichen NachbarInnen, obwohl sie deren nationale Identität teilen. Wird der Unterschied zwischen Land und Stadt zu einer Spaltung der Gesellschaft führen?

Wichtig ist – und dabei können die Grünen Vorreiter sein – ein neues Gefühl für Solidarität zu entwickeln, bei allem Selbstbestimmungsdiskurs weniger Orientierung nach oben, sondern ein Bündnis aus Mittel- und Unterschicht. Wir brauchen eine Gesellschaft mit einem gemeinsamen Sinn für Zugehörigkeit, mit einer geteilten Verantwortung, wo Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und wo alle am Ende verstehen, dass individuelles und kollektives Wohlergehen voneinander abhängig sind.

Und wir sollten die Frage diskutieren, was eine zeitgemäße, zukunftsfähige Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land ist: Was können Städte, was können ländliche Strukturen, wie brauchen sie einander, was können sie voneinander lernen, usw.

Das Land kann von der Stadt beispielsweise wieder eine Kultur des Teilens lernen: öffentliche Verkehrsmittel, Grünflächen, Schwimmbäder – das alles wird in der Stadt gemeinsam genutzt, während das Ideal des Landlebens auf dem eigenen Garten, dem eigenen Swimming-Pool, dem eigenen Auto beruht. Während die Stadt vom Land die Bedeutung von Identität und Zugehörigkeit gerade in Zeiten der Veränderung lernen kann.

Hat die Stadtbevölkerung mehr Sensibilität für die Folgen des eigenen Tuns, weil die Rückkopplung so unmittelbar geschieht, weil die permanente Nähe zu anderen Menschen die Abhängigkeit von der Gesellschaft offensichtlicher macht? Oder siehst Du ganz andere Gründe für den deutlichen Unterschied bei Wahlergebnissen?

Das Land hatte immer schon die konservativeren Strukturen – da ist jede Veränderung Zumutung. Und viele ziehen aufs Land, weil sie anderen nicht so nah sein wollen – weil man dann eben sein eigenes Haus, seinen eigenen Garten, seinen eigenen Swimmingpool hat. Und eben auch sein eigenes Auto. Um den Preis, dass man von letzterem abhängig ist.

Schwierig ist auch, dass einige „Erfolgsrezepte“ des ländlichen Raums ökologisch höchst fragwürdig sind – aber eben immer noch als Erfolgsrezepte gelten: Automobilität und Straßenbau, großräumige Erschließung und Zersiedelung, Einkaufszentren und Gewerbegebieten „auf der grünen Wiese“, Konzentration der Landwirtschaft, Wintertourismus.

Ich glaube, wir Grüne müssten überlegen, an welchen Strukturen und Tugenden des Ländlichen wir positiv anknüpfen könnten – und da gibt es schon einiges: Genossenschaften, Ehrenamtlichkeit und Vereinswesen, Bio-Landwirtschaft.

Wie siehst Du den Widerspruch zwischen „Natur“ und „Stadt“? Ist es nicht eigenartig, dass die Grünen davon träumen, „die Natur“ ausgerechnet in die Stadt zu bringen. Warum dann nicht gleich auf dem Land leben und die Stadt Stadt sein lassen, mit allen negativen Attributen (laut, unmenschlich, Betonwüste, Verkehrshölle, etc.)?

Ich halte es ja für einen weit verbreiteten Irrtum, ländliche Strukturen automatisch mit Natur, Ruhe, ursprünglicherem Lebensstil und Kleinräumigkeit gleichzusetzen. Auf dem Land hab ich häufig mehr Verkehrslärm als im grünen Innenhof in Wien, Honig von Stadtbienen ist weit weniger schadstoffbelastet als jener ihrer ländlichen Artgenossinnen, es gibt mehr Artenvielfalt in der Stadt, man kann seinen Alltag leichter ohne Auto bestreiten.

Ökologisch wäre es gar nicht machbar, dass die Masse der Menschen in den jetzigen Strukturen am Land lebt – und so ist es Aufgabe der Politik, darauf zu schauen, dass die Stadt Lebensqualität hat: für jeden Menschen einen grünen Fleck in erreichbarer Nähe, Kinder- und Altenfreundlichkeit, stille Orte und die Möglichkeit, bei offenem Fenster zu schlafen.

Hast Du den Eindruck, als BezirksvorsteherIn Deine früheren Positionen verändert zu haben? Sind manche grünen Vorstellungen in der Konfrontation mit der Lebenswelt der „anderen Menschen“ naiv und unrealistisch?

Naiv und unrealistisch ist die Annahme, wir könnten einfach so weitermachen wie bisher und gleichzeitig bliebe unser Leben bzw. das unserer Kinder und Enkelkinder im Wesentlichen unverändert. Eine grundlegende Veränderung wird stattfinden – die Frage ist nur, ob von uns gestaltet oder über uns hereinbrechend. Und die Klimaveränderung lässt uns nicht mehr viel Zeit.

Doch gleichzeitig braucht diese Transformation Zeit und Commitment:
Entscheidungen, die die Mobilität per Auto einschränken, sind für manche ein massiver Eingriff in ihr Alltagsleben und ihre Lebensentwürfe; und auch in Wien gibt es Wohngebiete, wo’s schwer ist ohne eigenes Auto. Der Umstieg braucht Innovation und Investition in öffentliche Infrastruktur, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und von Carsharing-Systemen. Und die Transformation braucht breite Einsicht in die Notwendigkeit, Grundlegendes zu ändern. Erstens, weil Lebensmittel derzeit zu billig produziert werden, um gesund zu sein. Zweitens, weil Wohnen nicht als freier Markt organisiert sein kann, wenn es für alle leistbar sein soll. Drittens, weil Automobilität, so wie wir sie leben, den einzelnen und uns alle zu viel kostet – und das sind bei weitem nicht nur finanzielle Kosten. Und zuletzt, weil unsere Art zu produzieren, zu konsumieren und wegzuwerfen, unsere Lebensgrundlagen kaputt macht – und dann wirklich irgendwann nicht genug für alle da sein wird.

Um die Dringlichkeit der Veränderung zu wissen und gleichzeitig zu wissen, dass das alles Zeit braucht – das ist der emotionale Drahtseilakt als grüne Politikerin.

Erkennst Du im Grünen Denken eine besondere Affinität zur Lokalpolitik, im Unterschied zu einer regionalen oder nationalen Ausrichtung? Also kann die unmittelbare Veränderung der Lebenswelt der Menschen auf eine Art die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit Grüner Politik zeigen, wie es bei den häufig abstrakteren anderen politischen Ebenen vielleicht nicht so leicht der Fall ist? Oder anders gefragt: Sind die Mariahilfer Straße und das 365 Euro Jahresticket bessere Wahlhilfen für die Grünen als ein neues Ökostromgesetz oder die grüne Frauenpolitik? Oder siehst Du hier keine wesentlichen Unterschiede?

Ich sehe keine wesentlichen Unterschiede. Wichtig wäre, die Politik auf den verschiedenen Ebenen in Beziehung zu setzen – das machen wir viel zu wenig! Zum Beispiel: Was hat das herrschende Mietrecht mit der Bautätigkeit in Währing zu tun? Welche Verpflichtungen bedeutet das Pariser Klimaabkommen für Wien und für Währing? Wie würde eine europäische Norm-Mehrwegkiste für Obst und Gemüse das Müllaufkommen auf unseren Märkten reduzieren – und wie viel Geld würde das dem Bezirk sparen?

Es gibt derzeit die Tendenz, Städte als Orte des Widerstands gegen die Globalisierung, gegen einen ausbeuterischen Neoliberalismus und den aufkeimenden Nationalismus zu sehen. In wie weit ist das Deiner Meinung nach gerechtfertigt. Sind Städte ein Labor des Widerstands, wo progressive Politik stattfinden und sich weiterentwickeln kann? Wo vielleicht eine post-nationale kosmopolitische Identität entsteht? Oder ist das Wunschdenken?

Ich sehe das nicht. Frankfurt und Paris prügeln sich gerade um die Beerbung von London als Finanzplatz, Wallstreet ist der Inbegriff des entfesselten Kapitalismus, der globale Wettbewerb der Städte ergänzt den der Nationen. Und ja, die „postnationale kosmopolitische Identität“ gibt es – ich war lang genug als Managementberaterin tätig – und die findet man auch in jedem Masterprogramm der Wirtschaftsuniversität oder jedem internationalen Lehrgang in den Städten dieser Welt. Woher da der Widerstand gegen den rechtsliberalen Mainstream kommen soll, erschließt sich mir allerdings nicht.

Du siehst die Stadt also nicht als Labor, wo Lösungen für das ganze Land entwickelt und erprobt werden können? Aber war der Erfolg von Van der Bellen in den Städten nicht ein Zeichen, dass es dort progressive Mehrheiten geben kann? Vergessen wir nicht Barcelona oder Paris, oder die „sanctuary cities“ in den Vereinigten Staaten. Oder die „resilient cities“, die gegen den Klimawandel kämpfen, wo die nationalen Regierungen es nicht können oder wollen. Wenn die Linke in den Nationalstaaten keine Mehrheiten haben kann, dann vielleicht zumindest in den Städten, mit entsprechendem Handlungsspielraum?

Ja, vielleicht. Es ist schon so, dass es in der Stadt strukturell einfacher ist, eine solidarische und nachhaltige Lebensweise für alle zu finden als am Land. Weil in der Stadt das Teilen, das Gemeinsam-Nutzen schon angelegt ist. Weil in der verdichteten Siedlungsstruktur ein Alltag der kurzen Wege mit Nahversorgung und umweltfreundlichem Verkehr leichter zu realisieren ist. Aber selbst wenn eine sozialökologische Wende in den Städten gelingt, befinden sie sich immer noch in einem rechten, neoliberalen Umfeld. In Österreich hat Wien diese Erfahrung schon einmal in den 1930er-Jahren gemacht – und wenn es nach der Nationalratswahl im Oktober eine rechte Regierung in Österreich gibt, wird eines ihrer vordringlichen Ziele die Bekämpfung des rot-grün regierten Wien sein.

Die Politik des Roten Wiens Anfang des 20. Jahrhunderts ist heute noch legendär. Diese Zeit der sozialdemokratischen Regierung mit einer transformativen Agenda im Wohnbau, der Bildung und der Mobilität hat die Stadt bis heute geprägt. Würdest Du sagen, dass das damals bereits „grüne“ Politik war?

Natürlich war die Politik des Roten Wien aus heutiger Sicht im Kern auch grüne Politik: Auch das Rote Wien hatte als oberstes Ziel ein gutes Leben für alle. Es wurde in umfassender und konsequenter Weise öffentliche Infrastruktur für alle geschaffen – vom öffentlichen Verkehr über das Schwimmbad und Parkanlagen bis zur Bibliothek, ist solch eine Stadt des Teilens sozial und ökologisch ein Vorzeigeprojekt. Und die Parallelen können noch weiter gezogen werden: gleiche Bildungschancen für alle, eine säkulare Politik, leistbare und gesundes Wohnen für alle, Aufklärung und Moderne als Grundlagen der Gesellschaft.

Grüne Politik führt ja in gewisser Weise die Ideen des Roten Wien ins 21. Jahrhundert – und das bedeutet vor allem das Ernstnehmen der ökologischen Herausforderungen sowie eine zeitgemäßere Idee von Beteiligung und Innovation.

Was würde eine absolute Grüne Mehrheit im Wiener Rathaus heute anders machen?

Wir würden die Stellung als größter Wohnungsbesitzer Europas für eine ökologische Offensive nutzen: Wärmedämmung aller Gemeindebauten, Solarkraftwerke auf den Dächern, Fassadenbegrünungen, Regenwassermanagement.

Die dritte Landepiste am Flughafen Wien und die Lobau-Autobahn wären als untauglich für die Zukunftsherausforderungen abgehakt. Es gäbe wesentlich mehr Innovation und Investition bei den Öffis sowie eine Offensive für Nahversorgung, Reparaturwirtschaft und Innovationen im Wirtschaftsverkehr. Es gäbe eine viel mutigere Bildungspolitik und wesentlich radikalere Schritte in Richtung Dekarbonisierung.